1. Anna Teil 3


    Datum: 06.10.2020, Kategorien: CMNF Autor: Anonym

    ... Immerhin, dachte Anna, so bin ich hier nicht ganz allein der Paradiesvogel. Vangelis stand vorn mit gefalteten Händen und wartete geduldig darauf, dass sich all seine Schäfchen einfanden. Er nickte Anna und dem Schweizer unauffällig zu, machte ihnen Zeichen, dass er für die beiden zwei Stühle ganz vorn reserviert hatte. Anna zögerte, aber der Schweizer ergriff wieder ihre Hand, die beiden standen auf und gingen nach vorn. Hier nun saß Anna, vorn, unmittelbar am Gang, im Blickfeld all der anderen, aufmerksam beobachtet die schönen freien Schultern, der sehr weite Ausschnitt, die tief gebräunten nackten Beine. Sie fühlte sich unwohl. Und das blonde Mädchen fröstelte, hier drinnen war es sehr kühl, besonders wenn man aus der Hitze von draußen kam, sie spürte, wie spärlich und dünn doch ihr Kleidchen war. Und sie musste höllisch aufpassen, so ziemlich wie möglich zu sitzen, nicht etwa unbedacht die Beine übereinander zu schlagen, damit Vangelis oder jemand anderes nicht ungewollt Zeuge ihrer Blöße darunter wurde.
    
    Die Messe begann, Vangelis fing an zu singen, die Gläubigen stimmten nach und nach ein, dabei besprenkelte Vangelis eine der Ikonen mit einer Flüssigkeit aus einer goldfarbenen Behälter. Anna vergaß für den Moment ihr eigenes Erscheinungsbild, sie sah dem ganzen interessiert und aufmerksam zu. Nach einer Weile beobachtete sie aus dem Augenwinkel auch die Leute, die ganz in das Gebet und die Andacht versunken schienen. Viele der Gesichter waren gegerbt, gefurcht von ...
    ... einem harten, kargen Leben auf der See, in den Bergen. Eines der jungen Mädchen vorn in der ersten Reihe war sehr hübsch, es schielte immer mal zu Anna herüber, schaute aber sofort weg, wenn sich ihrer beider Blicke trafen. Giorgos, der unauffällig am Rand gesessen hatte, stand auf und verschwand. Kurz darauf erhoben sich alle von ihren Stühlen. Jetzt schauen alle auf meinen Arsch, dachte Anna. Und tatsächlich, das Kleidchen aus Leinen war vom Sitzen auf dem festen Holzstuhl hinten ein hoch gerutscht und zerknittert. Anna zog es mit einer hastigen Bewegung glatt und so weit es ging nach unten. Nach einem letzten Lied ging Vangelis Weihrauch schwenkend hinaus aus der Kapelle, die Gemeinde folgte ihm, es leerten sich die ersten Reihen zuerst, wieder gingen alle hinter Anna her. An der Tür wurden alle von Vangelis gesegnet.
    
    Auf dem schattigen Platz traf man wieder zusammen. Auf dem Tisch waren nun Brot, Wasser, Wein, Salate, Oliven, Pasten, Feta und vielerlei mehr aufgefahren, eine richtige Vesper. Die Gemeinde bediente sich, man schwatzte und aß. Manche fuhren schon wieder ab, andere blieben. Anna und der Schweizer standen etwas am Rande, aber schon kam Vangelis dazu, zog sie mehr oder weniger zu einer Menschengruppe und stellte sie vor. Man ging zu einer Reihe von Stühlen, die Giorgos zuvor an der Wand des kleinen Hauses aufgestellt hatte und setzte sich in eine Reihe. Anna zögerte. Wie sollte sie sich setzen mit diesem Kleid, der Menge zugewandt? Aber schon bot ihr Vangelis ...
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