Mitternacht
Datum: 17.12.2018,
Kategorien:
BDSM
Autor: byTharia
... Finger fahre ich am Rand eines Blütenblattes entlang. Perfekt geschwungen, zart und wunderschön. Wie jedes andere Blütenblatt auch. Weiter, am Blütenkelch entlang und schließlich den Stiel herunter. Ein helles Grün, zart wie die Hoffnung, die Freude, das Glück. Und doch nicht mehr als nur eine Facette unter vielen, denn spitze Dornen fesseln meinen Blick.
Am Ansatz noch weich und zart, werden sie zur Spitze hin immer dunkler und bedrohlicher. Eine Warnung, dass jede noch so vollkommene Schönheit und Hoffnung auch Schmerz mit sich bringen kann. Zwei Seiten, die im Gleichgewicht miteinander stehen, oder wird die eine Empfindung letztendlich doch über die andere siegen?
In diesem Augenblick fällt mein Blick auf eine kleine Karte, die noch in dem geöffneten Päckchen liegt, tiefschwarz wie der Karton. Und ebenso, wie die weiße Schleife im Kontrast zu diesem Karton steht, reihen sich auf der Karte silberweiße Buchstaben in einer elegant geschlungenen Schrift aneinander:
dunkelheit in meinem herzen
zeige ich dir eine andere welt
komm zu mir, eos
denn mit der nächsten sonne werden wir
schwarz wie der abgrund
weiß wie die unschuld
rot wie die leidenschaft
grün wie die hoffnung
sein
ist dies der anfang des endes
oder das ende des anfangs
mitternacht
Beim ersten Lesen verschlinge ich die Worte so schnell, dass ich den Inhalt nicht verstehe. Erneut lese ich die Zeilen, und dieses Mal zwinge ich mich dazu, langsam zu lesen und mich zu ...
... konzentrieren. Was zur Hölle ist ein „Eos“? „Göttin der Morgenröte“, lese ich im Internet. Meint er damit etwa mich?
Ein Schauer läuft mir den Rücken herunter, als ich Abgrund und Leidenschaft und Hoffnung lese. Das waren genau die Worte, die mir durch den Kopf gingen, als ich die Rose in der Hand hatte. Wie unheimlich.
Vage erinnere ich mich, wie er gestern von Anfang und Ende sprach, bevor meine Augen am letzten Wort kleben bleiben: Mitternacht.
Kurz entschlossen stehe ich auf, greife nach meinem Mantel und dem Schlüssel. Noch zwanzig Minuten bis Mitternacht.
Ich weiß nicht, von welcher Dunkelheit er spricht, oder wie mein Leben bei der nächsten Morgenröte, dem nächsten Sonnenaufgang aussehen wird. Aber ich weiß, dass ich bereit bin, mir diese andere Welt zeigen zu lassen. Bestehend aus Lust und Leidenschaft, aus Demut und Hingabe, aus Qual und Freiheit.
Vergessen liegt das Buch in einer Ecke. Der Entführer und sein junges Opfer haben keinen Platz mehr in meinen Gedanken. Es wird Zeit, meine eigene Geschichte zu schreiben.
Der Park ist verlassen, es ist dunkel und hell zugleich. Die Silhouetten der Bäume wirken schwarz und bedrohlich, die Schatten und Geräusche des Windes lassen mich unwillkürlich schneller gehen. Doch der helle Schnee und der Vollmond tauchen die Szene in ein unwirkliches Licht.
Und dort, an diesem großen, dicken Baum, steht eine einsame Gestalt mit dem Rücken zu mir. Sie dreht sich um, als sie meine Schritte hört. Aufmerksam, berechnend, ...