1. Der Pianist und das Mädchen


    Datum: 13.03.2022, Kategorien: Romantisch Autor: Dingo666

    ... Flüssigkeit durch ihre Kehle rann, süß und halbwarm.
    
    "So, mein Schatz, gleich sind wir da! Du wirst staunen!"
    
    Claude grinste sie mit seinem unnachahmlich breiten Grinsen an: Mund weit aufgerissen, Augen ebenso, Zähne gefletscht. Aurie musste wieder lachen, obwohl sie die Grimasse nicht mehr lustig fand.
    
    Früher hatte sie zu Claude aufgesehen wie zu einem herabgestiegenen Gott. Seine übertriebenen Faxen, seine Clownerien und wilde Streiche schienen ihr die Krönung weltmännischer Lebensart. Jetzt, nachdem sie über als ein Jahr mit ihm zusammen war -- mehr oder weniger jedenfalls -- da hatten sich die meisten seiner Sprüche und Gesten abgenutzt. Hinter Claude, dem Gott, war Claude, der Mensch hervorgetreten. Keine gute Entwicklung. Claude, der Mensch, war zwar drei Jahre älter als sie. Das bedeutete aber nur, dass er die Schule drei Jahre vor ihr abgebrochen hatte und seitdem arbeitslos durch die Banlieus zog.
    
    Aurie lachte trotzdem noch einmal und ließ sich mitziehen. Neben ihr trabten Jac und Pilli und Chica, der Rest der kleinen Gang. Jac und Pilli hatten früher am Abend ein paar von den blauen Pillen eingeworfen und bekamen kaum mit, was lief. Nur Chica schien einigermaßen klar. Sie war sechzehn, schmächtig, und bestand nur aus riesigen Augen unter den Punkersträhnen. Aurie wusste, dass sie heimlich in Claude verknallt war.
    
    "Heee, hier waren wir doch schon mal!"
    
    Jac blieb stehen und stierte die weiße Fassade des kleinen Schlösschens an, das vor ihnen ...
    ... zwischen den Bäumen aufgetaucht war. Aurie sagte nichts. Sie hatte bereits vor einigen Minuten bemerkt, wohin Claude sie unter großer Geheimhaltung führte. Verwirrung erfüllte sie. Genau vor einem Jahr, an ihrem siebzehnten Geburtstag, waren sie ebenfalls in diesem abseits gelegenen Park gewesen. Und heute, an dem Abend, an dem sie endlich volljährig wurde, hatte Claude ihr etwas Einmaliges versprochen. Warum, um Himmels Willen, wollte er an diesen Platz zurück?
    
    "Hier lang!"
    
    Claude achtete nicht auf den Einwurf, sondern schlich sich auf die Seite des Gebäudes und tastete gezielt das kleine Fenster gleich rechts ab. Ein leises Klicken, er grinste ihnen mit erhobenem Daumen zu, und zog sich in die freie Fensteröffnung. Eine Minute später erschien er hinter den raumhohen Saaltüren, die auf die Parkterrasse hinausführten, und öffnete zwei der Flügel mit grandioser Geste.
    
    "Mesdames et Messieurs, bitte sehr!"
    
    Die vier schritten zögernd durch das Portal, eingeschüchtert von der Pracht der Umgebung. Üppiger Stuck verzierte die Wände des Saales, jetzt dunkle Kronleuchter funkelten an der Decke, und an den Seiten warteten Stehtische mit blütenweißen Stoffüberzügen.
    
    Aurie bewunderte ein abstraktes Gemälde in frohen Farben und wünschte sich gleichzeitig, endlich wieder zurück zu sein. Zurück in Claudes chronisch zugemülltem Zimmer bei seiner Mutter, oder zurück in ihrer eigenen kleinen Dachkammer. Oder wenigstens in dem alten Schuppen hinter der Tankstelle, der das inoffizielle ...
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