1. Der Pianist und das Mädchen


    Datum: 13.03.2022, Kategorien: Romantisch Autor: Dingo666

    ... geteilten Lust nach.
    
    Endlich beruhigte sich die Flut zu einem Strom. Der verging zu einem Bach, löste sich in ein Rinnsal auf, in einzelne Tropfen. Letzte Töne. Ein abschließender Akkord, lange nachhallend.
    
    Dann:
    
    Absolute Stille.
    
    Wie immer, wenn sein Spiel zu Ende war. Der kurze, kostbare Moment der Pause, bis das mühsame Rad sich erneut in Bewegung setzen würde.
    
    Der Moment dauerte an.
    
    Wurde zu Sekunden.
    
    Zu vielen Sekunden.
    
    Jean-Luc öffnete die Lider. Blickte in hunderte von aufgerissenen Augen. Sah aufgesprungene Gestalten, vor dem Gesicht verkrampfte Fäuste. Registrierte an die Brust gepresste Hände, zerzauste Haare, offene Münder. Er und das Auditorium starrten sich an wie zwei Einsiedler, die nach Jahren einen anderen Menschen zu sehen bekamen. Denen noch nicht wieder eingefallen war, wie diese seltsamen Wesen gleich genannt wurden.
    
    Dann begann jemand zu klatschen. Vorsichtig und leise, irgendwo hinten links. Nach weiteren Sekunden schloss sich ein zweites Händepaar an. Ein drittes.
    
    Viele mehr. Ein Ruf. Ein Pfiff. Trampeln. Johlen.
    
    Schreien.
    
    Die Menge pulsierte, als ob sie von seiner Musik elektrisch aufgeladen worden wäre. Einige ...
    ... schüttelten die Fäuste wie Prediger in Ekstase oder waren auf ihre Stühle zurückgesunken. Die allermeisten jubelten ihm so frenetisch zu, als sei er einer dieser Popstars.
    
    Er blinzelte überwältigt. Sein Blick irrte umher, suchte seine Mutter. Marie kauerte auf ihrem Sitz, das Gesicht zwischen den Händen vergraben. Ihre Schultern zuckten.
    
    Sie wusste, dass er ihr entglitten war. Dass sie ihn auf ewig verloren hatte.
    
    Es berührte ihn nicht. Gerade hatte er bemerkt, dass seine Kopfmusik nicht spielte, sondern wohltuende Stille zwischen den Schläfen herrschte. Das war in Ordnung, das war gut so. Wenn er seine inneren Harmonien brauchte, würde sie da sein, das spürte er. Und solange konnte er sich auf diesen unglaublichen Beifallssturm konzentrieren, den die Zuhörer ihm schenkten.
    
    Eine andere Bewegung zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Eine schlanke Gestalt, völlig unpassend in Jeans und etwas in schreiendem Pink gekleidet, drängte sich da im mittleren Gang nach vorne. Blonde Haare flogen um leuchtende Augen. Und was hielt sie da in der Hand? Das sah aus wie das Brett einer zerbrochenen Gemüsekiste.
    
    Jean-Luc lächelte und sprang von der Bühne.
    
    ENDE
    
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