Die Gretchenrolle
Datum: 18.08.2024,
Kategorien:
Kunst,
Autor: NackterKerl20
„Puh, ich muss dir was erzählen… “ sagte Emilia und fasste sich an den Kopf. „Was gibt‘s denn?“ fragte Thomas – einer ihrer Freunde aus der Schule. Es war ein ruhiger Mai-Tag und beide saßen – wie üblich – gemeinsam im Aufenthaltsraum und warteten auf das Ende einer ungünstig platzierten Freistunde, damit sie endlich in den verachteten Religionsunterricht gehen konnten – die letzte Schulstunde des Tages.
„Du weißt doch, dass ich in dieser Theatergruppe bin-“,
„Ja, natürlich! Muss ich dir eh noch sagen, ich hab mir ne Karte gekauft. Ich schau mir dann nächsten Monat eure Premiere an!“
„Ja,“ fuhr Emilia fort „genau darum geht es mir. Ich denke ich sollte dich vielleicht erstmal darauf vorbereiten. Bevor du kommst…
Also, als ich beigetreten bin, war alles recht normal. Wir sind eine gemischte Gruppe in jeglicher Hinsicht. Es gibt Junge, alte, Leute die hier seit Generationen leben und einige, die aus anderen Ländern kommen. Trotzdem haben wir uns gut verstanden und auch unser Regisseur ist nett. Die ersten Proben waren aber schon ziemlich hart. Das ist die letzte Spielzeit von unserem Regisseur am Stadttheater und wir sind auch die letzte Laiengruppe, die er als Hobby leiten wird. Er kommt also richtig aus der alten Schule. Während der Probe macht der einen fertig und er ist sehr sparsam mit Lob. Trotzdem hat er mich mit seiner Genialität total erwischt. Er weiß, was er macht und er holt alles aus uns raus. Und er meint es ja auch nicht persönlich, wenn er dich in ...
... der Probe beleidigt. Sonst ist er super lieb.
Naja, also wir führen ja Goethe’s Faust auf. Unser Regisseur wollte mit einem krönenden Abschluss gehen und fand das passend. Ich bin das Gretchen. Das Stück ist ja – wie du weißt – etwas weird. Aber es passiert ja nicht wirklich was. Bei uns schon…
Alles fing an als wir zur Gartenszene kamen. Unser Regisseur meinte, ich und Joachim, der Faust spielt, sollten doch ein bisschen rummachen. Ich war echt hölzern, ich hatte ja noch nie jemanden geküsst, und Joachim ist Mitte vierzig! Ich hab ihn also vorsichtig an den Schultern genommen und ihn verlegen angestarrt – ich glaub mein Gesicht war knallrot, da schrie der Regisseur schon ‚Ihr sollt rummachen! Wir sind hier doch nicht in nem Mönchskloster‘. Ich schaute zu Boden und wusste echt nicht, was ich tun sollte. Wir fingen also in der Szene noch mal von vorne an. Nur diesmal war Joachim besser darauf eingestellt und machte gleich los. Er presste sich an mich ran und küsste mich innig. Ich war erst etwas frappiert, machte aber natürlich schnell mit, küsste zurück und strich ihm durchs zerknautschte Haar. Das peinlichste war – ich weiß gar nicht ob ich dir das erzählen will, Thomas – ich trug gar keinen BH unter meinem T-shirt. Es war ja Winter als das passiert ist und ich hatte den ganzen Tag eh Wintersachen an. Nur zur Theaterprobe, hab ich meine Jacke und meinen Pulli ausgezogen und trug eben nur noch mein T-shirt. Das allein wäre ja schon schlimm genug gewesen, Joachim hatte das ...