1. Langes Wochenende


    Datum: 20.06.2020, Kategorien: Romantisch Autor: Freudenspender

    ... bin ohne zu denken zum Du übergegangen. Insgeheim glaube ich, das könnte vertrauensbildend wirken. Ob dem wirklich so ist, kann ich nicht sagen. Schaden wird es sicher nicht. Anna scheint es gar nicht aufgefallen zu sein, sie reagiert darauf nicht. Sie greift jedoch zielsicher zum Bier.
    
    "Darf ich?", erkundigt sie sich schüchtern. "Von mir aus", stimme ich zu.
    
    Sie ist schließlich volljährig und ein Bier wird sie nicht betrunken machen. Warum soll ich ihr ein Bier verwehren. Somit trage ich die für sie zusammengesuchte Getränkeauswahl zurück in die Küche, stelle alles wieder in den Kühlschrank und nehme für mich ein weiteres Bier. Das brauche ich jetzt. Schließlich ist die Sache etwas komisch.
    
    Als ich auf die Terrasse zurückkehre, sitzt Anna immer noch da und hält die volle Flasche in der Hand. Sie hat nicht einen Schluck genommen. Vielmehr hält sie die Flasche mit beiden Händen zwischen ihren Knien und schaut geistesabwesend in den Garten. Ich setze mich ihr gegenüber hin.
    
    "Prost!"
    
    "Prost!", antwortet sie.
    
    Ich nehme einen Schluck aus der Flasche und sie macht es mir nach. Sie schaut mich dabei immer mit großen Augen an. Ich habe den Eindruck, Panik mache sich allmählich in ihr breit.
    
    "Erzähl mal, warum ist es so scheiße?", fordere ich sie auf.
    
    Ich hoffe, dass reden hilft. Zumindest heißt es das immer. Anna hat, wie schon zuvor, geistesabwesend an mir vorbeigeschaut. Bei meiner Frage wird sie aus ihrer Trance gerissen und fokussiert sich auf ...
    ... mich.
    
    "Wie soll ich das erklären?"
    
    "Du wolltest zu Werner. Hast das aber nicht mit ihm abgesprochen."
    
    "Sie müssen mich für eine dumme Kuh halten."
    
    "Ich halte dich überhaupt nicht für eine dumme Kuh", stelle ich entschieden klar. "Ich will nur verstehen, was dein Plan war?"
    
    "Ich lebe in einem Heim, weil ich keine Eltern mehr habe. Sie sind vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern", beginnt sie zaghaft. In ihrer Stimme liegt große Trauer und mir ist klar, es kostet sie große Überwindung, zu erzählen. "Wenn ich über das verlängerte Wochenende im Heim bleibe, langweile ich mich zu Tode. Ich bin die weitaus Älteste dort und habe keine Freundinnen. Die anderen Mädchen sind viel zu jung und zu kindisch für mich. Sie sind ja auch um einige Jahre jünger. Deshalb wollte ich Werner besuchen. Ich war wohl etwas naiv."
    
    "Warum zu Werner?"
    
    "Ich bin vermutlich das einzige Mädchen in der ganzen Schule, das noch keinen Freund hat und - soweit ich weiß - hat auch Werner keine Freundin. Er ist auch immer sehr freundlich und nett zu mir. Deshalb hatte ich gehofft, er sei nur zu schüchtern, um mich anzusprechen."
    
    "Aha", antworte ich. "Du wolltest ihn besuchen?"
    
    "Ich hatte gehofft ...", stammelt sie, bricht aber in Tränen aus, bevor sie den Satz vollenden kann.
    
    Mir tut das Mädchen leid. Sie ist verzweifelt. Ich gehe deshalb zu ihr hin, gehe neben ihrem Sessel in die Hocke und nehme sie ganz spontan in den Arm. Erst als ich ...
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