1. Das Lied ohne Sprache


    Datum: 10.01.2021, Kategorien: Sci-Fi & Phantasie Autor: byBleeding_Heart

    ... dass seine Beine, seine Brust und überhaupt alles an seinem Körper, was er sehen konnte, mit Wunden gespickt war, Wunden, die schmerzten. Wunden, die brannten. Und Wunden, die weder schmerzten noch brannten, dafür aber den sauren Geschmack der Übelkeit über seine Zunge legten.
    
    Seine Beine, die wenige Fingerbreit über dem Boden schwach hin und her baumelten, waren an mehreren Stellen aufgerissen, blau oder lila oder rot. Das waren die Stellen, die brannten oder schmerzten.
    
    Sein rechtes Bein aber besaß eine der Wunden, die das nicht tat: Unter dem Knie begann seine Haut, sich zu winden, als sei sie gedreht worden. Aus der Mitte des Schienbeins lugte eine kleine, weiße Ecke hervor, und darunter, wo er seine Zehen erkennen konnte, bemerkte er, dass die Zehen seines rechten Fußes ein wenig mehr nach links geneigt waren als gewohnt.
    
    Seine Brust hob sich langsam, in einem nervösen, müden Rhythmus. Auch sie war blau und lila und rot und brannte. Aber auch nur das.
    
    Rivaell spürte einen kühlen Hauch über seinen nackten, geschundenen Körper flüstern, und ihn fröstelte. Die Muskeln in seinen Oberarmen brannten. Die Sehnen seines Halses schienen ihn erdrosseln zu wollen, als er langsam das Kinn von seiner Brust hob.
    
    Er leckte sich vorsichtig über die aufgeplatzten und vertrockneten Lippen und hob seinen Kopf, weiter und weiter, bis er zur Decke blickte.
    
    An der hölzernen Decke, keine zwei Meter über ihm, war eine metallene Platte in das Holz eingelassen. An der Platte ...
    ... war ein großer metallener Ring, und an diesem hingen zwei Ketten, die mit den Ringen um seine Handgelenke verbunden waren und ihn in der Luft hielten.
    
    Wäre er ein gewöhnlicher Mensch gewesen, so wäre er in Panik geraten -- aber das war er schon zu lange nicht mehr. All die Jahre der Ausbildung und all die Veränderungen seines Körpers hatten ihn zu etwas anderem gemacht. Etwas kälterem. Etwas ruhigerem und stärkerem.
    
    Die Ketten sahen robust aus. Seine Kraft würde nicht ausreichen, um sie zu sprengen, und seine Zeichen nicht wirken, denn er sah die Runen, die in die einzelnen Glieder gewoben waren, sich sanft in sie hineindrückten und zugleich so hart seine Gedanken an eine Befreiung unterwarfen und schlachteten.
    
    Rivaell ließ den Kopf wieder sinken und inspizierte weiter seinen Körper. Bis auf die zahlreichen Schnittwunden und das verdrehte Bein war er intakt. Ihm fehlte kein Körperteil, außer dem Schwert, das er sonst immer bei sich trug.
    
    Rivaell hatte sich immer damit gebrüstet, aus schwierigen Situationen heil heraus kommen zu können. Doch egal wie groß sein Glück für gewöhnlich war, aus dieser hier würde er nie entkommen, das wusste er sofort und instinktiv.
    
    Für gewöhnlich gab es immer ein Schlupfloch, einen Fehler, einen Zufall, der ihm das Leben rettete. Doch hier, angekettet zwischen Decke und Boden, ohne eines von beiden zu berühren, hier gab es nichts als Blut und Asche und Blei. Kein Fehler, kein Loch, kein Zufall und keine Rettung.
    
    Alles, was er hier ...
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