1. Fuchs und Wolf


    Datum: 30.12.2021, Kategorien: Sci-Fi & Phantasie Autor: bypronstories

    Ein Schatten huschte im Licht des Vollmondes über den Rasen des Anwesens bis zu dem Fenster. Für das Auge war er kaum sichtbar; selbst auf dem taufeuchten Gras hinterließ er kaum eine Spur.
    
    Bei dem Fenster hielt er kurz inne. Wäre jemand dort gewesen - was niemand war - hätte er eine zierliche Frau in der Blüte ihrer Jahre gesehen. Sie schob ein kleines Messer in die Spalte zwischen den Fensterläden. Ein kurzer Ruck, und die Läden öffneten sich. Das gleiche machte sie mit dem doppelflügeligen Fenster hinter den Läden, das einen Augenblick später offen stand.
    
    Die Frau glitt durch die Fensteröffnung; ihr graues Gewand floß wie Nebel hinterher.
    
    Sie schlich durch die Bibliothek. Die Gerüche von Holz, Papier und kaltem Rauch füllten ihre Nase. Ihre eng zusammenstehenden Augen flogen durch den Raum, bis sie fand, was sie gesucht hatte; ein Regal voller Bücher mit japanischen Titeln. Ihre Finger fuhren über die ledernen Buchrücken. Bei einem hielten sie inne.
    
    Die Frau sah auf. Ihre Augen hefteten sich auf die Eichentür, die aus der Bibliothek in das Anwesen führte. Ihre Ohren zuckten kaum sichtbar.
    
    Knarrend öffnete sich die Tür. In der Öffnung stand ein Mann in einem brokatgesäumten Hausmantel. Eine Öllampe leuchtete in seiner Linken, die Rechte hielt ein Rapier. Das Licht hob die Falten in seinem Gesicht scharf hervor.
    
    Sein Backenbart sträubte sich, als er knarzte: "Junge Dame! Wisst Ihr nicht, dass niemand es jemals geschafft hat, mich, den Viscount De L'Isle ...
    ... zu bestehlen und später davon zu erzählen? Tut uns beiden einen Gefallen: Legt das Buch zurück und verschwindet. Ich möchte heute Abend kein Blut vergießen. Und glaubt mir: Ich bin kurz davor. Diese Bücher, die Ihr gerade anfasst, habe ich auf meiner Japan-Reise erstanden. Es sind mir sehr wertvolle und zugleich unersetzbare Andenken."
    
    Langsam drehte sich die Frau zu ihm um; dabei zog sie das Buch aus dem Regal, bei dem ihre Finger verharrt hatten. Er kniff die Augen zusammen, als er sie genauer betrachtete. "Was macht eine junge Japanerin hier in England?"
    
    "Watashi no tane ni taisuru saidai no kiken o haijo shimasu", antwortete die Frau.
    
    "Von was für einer Gefahr redet ihr?", fuhr der Viscount die Frau an. Die Fingerknöchel der Hand mit dem Rapier wurden weiß, als er langsam näher auf sie zutrat. Er überragte sie um mehr als einen Kopf.
    
    Statt einer Antwort floss das Gewand der Frau zu Boden. Nackt leuchtete ihr zarter Leib im Licht des Mondes, das durch das Fenster fiel. Dem Viscount fiel die Kinnlade herunter.
    
    "Anata ga watashi o tsukamaeta toki ni, ōkami o kyō emasu", forderte sie ihn heraus - und verschwand.
    
    Statt ihrer stand eine weiße Füchsin auf dem grauen Stoff, neben ihr lag das Buch. Der Viscount starrte ungläubig auf die sechs Schwänze, die sich buschig von ihrem Hinterteil erhoben.
    
    Die Füchsin sah dem Viscount in die Augen, bevor sie herumwirbelte, zwei Sätze Anlauf nahm und durch das Fenster sprang.
    
    "Fangen soll ich dich?", knurrte der ...
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