Der Pianist und das Mädchen
Datum: 13.03.2022,
Kategorien:
Romantisch
Autor: Dingo666
... Flöte und dem makellosen Schmelz einer Violine.
Jean-Luc lächelte, schritt das Treppchen hinab und musterte die Grüppchen, die sich in Windeseile um die weiß bezogenen Bistro-Tische gebildet hatten. Solange seine Musik im Kopf ertönte, fühlte er sich gut. Stabil.
Mehrere der Tische waren leer geblieben. Jean-Luc wusste, dass seine Mutter besorgt war. Und dass er selbst auch besorgt sein sollte. Mit einundzwanzig war er langsam zu alt, um noch als "Wunderkind" durchzugehen. Ein Titel, der seine Konzertankündigungen schmückte, seit er mit elf Jahren zum ersten Mal auf einer grell ausgeleuchteten Bühne gestanden und auf das Publikum hinuntergesehen hatte. Damals war der Saal gerammelt voll gewesen. Dafür hatten -- neben seinem unleugbaren Ausnahmetalent -- die nimmermüden Anstrengungen seiner Mutter gesorgt. Doch in letzter Zeit wurden die Säle kleiner, und die Lücken in den Stuhlreihen größer.
Tatsächlich beschäftigte ihn das kaum. Etwa so, wie man dem Fortgang einer Handlung in einer Vorabendserie folgte, die man nicht besonders gerne sah: Etwas müßig und leicht gelangweilt. Getrennt durch eine dicke Glasscheibe. Erleichternd fern, angenehm nebensächlich.
"Jean-Luc, mein Liebster, da bist du ja endlich!"
Seine Mutter Marie flatterte um ihn herum wie ein Brutvogel um sein Küken. Er lächelte pflichtgemäß und ertrug es mit der ernsthaften Aufmerksamkeit des braven Sohnes. Marie zupfte ihm einige nicht vorhandene Fusseln von Revers seines Smokings und plapperte in ...
... einer Tour. Sie zerhackte die sphärenhaften Klänge in seinem Kopf, übertönte sie, machte sie nieder, wie ein Gartenhäcksler es mit lästigem Unkraut tat. Jean zuckte zusammen bei dieser Empfindung.
"Heute Abend war er nicht ganz in Topform, mein Kleiner. Innerlich ist er längst bei der Vorbereitung des großen Abschlusskonzertes in drei Tagen. Sie kommen doch hoffentlich auch zum Konservatorium, Monsieur Heradoux?"
Monsieur Heradoux lächelte unverbindlich und murmelte etwas Nichtssagendes zur Antwort. Das störte Marie nicht. Sie war in Topform. Wie jedes Mal, wenn sie seine Auftritte vorbereitete, die Veranstalter umwarb, oder die Pressemeldungen schrieb und die Homepage aktualisierte. Eine nimmermüde Redemaschine. Ein Maschinengewehr der Plattitüden. Ein östrogengetriebenes Perpetuum mobile, beseelt durch reine Mutterliebe. Ein Marschflugkörper, auf ein einziges, fernes Ziel eingerastet: seinen Erfolg. Seinen großen, finalen, überwältigenden, allumfassenden Durchbruch als Konzertpianist.
Er wusste, dass sie die Dinge anders wahrnahm als andere Menschen. Als die Kritiker beispielsweise, die schon über ihn berichtet hatten. "Technisch perfekt, aber ohne Seele." war zu lesen gewesen, oder "Er spielt wie ein Musikcomputer der übernächsten Generation es vielleicht können wird." Marie hatte getobt und geschimpft. Lange, gehässige Tiraden über Leute, die es wagten, andere zu beurteilen, während sie selbst nur höchst mittelmäßige Musik zustande brachten. Wenn überhaupt.
Er ...