Ein Vorurteil
Datum: 17.02.2023,
Kategorien:
Romantisch
Autor: Achterlaub
... war bereits in erheblichem Umfang geschlossen und nässte kaum mehr. Aber irgendwie war da mehr. Diese Krankenschwester wurde mir täglich vertrauter, schon fast wie eine gute Freundin, der man auch von sich und seinem Leben ohne Argwohn erzählen kann.
Bis zu jener bösen Operation war ich Versicherungsvertreter im Außendienst einer weltweit agierenden Versicherungs-Allianz. Ich verkaufte an der Haustür, meist aber vom Büro aus alle möglichen Versicherungen, von Hausrat über Leben bis Berufsunfähigkeit. Letzteres hatte ich glücklicherweise selbst abgeschlossen. Ich müsste mir deshalb keine Gedanken um die Zukunft machen. Bei völliger Genesung könnte ich in meinen Beruf zurück, möglicherweise nur noch in den Innendienst. Und wenn auch das nicht mehr ging, wäre ich finanziell ausreichend abgesichert.
Irgendwie bewunderte ich mit der Zeit Michelle. Es war zum einen die Stärke, die sie in der Fremde überleben ließ. Andererseits hatte sie sich dabei ein so liebes Wesen erhalten. Sie wollte oder auch konnte mir gewiss nicht von all dem berichten, was ihr in Afrika widerfahren war. Da war ich mir sicher. Denn von den Ereignissen in Burkina Faso und auf dem Weg nach Europa hatte sie nie ein Wort verloren. Ich hütete mich davor, sie zu fragen. Das hätte wohl diese schöne gemeinsame Atmosphäre zwischen uns zunichte gemacht.
Mit ihrer Haltung ist sie gewiss eine Ausnahme unter den unzähligen Zuwanderern, dachte ich. Vielleicht ist sie sogar einzigartig. Denn nach wie vor konnte ...
... man lesen, dass Migranten andere malträtierten oder Frauen sogar Schlimmes antaten. Ausnahmen bestätigen eben die Regel, konnte nur meine Schlussfolgerung sein.
Gleichwohl spürte ich, dass mit jedem Tag, den Michelle sich meiner Pflege widmete, mein Blick auf solche Horror-Geschichten kritischer wurde. Bei genauem Lesen musste ich feststellen, dass Opfer vielfach Landsleute oder Mitbewohner waren. Das änderte zwar nichts am Unrecht; es betraf indes nicht in erster Linie die hiesige Bevölkerung. Ungeachtet dessen müssen sich alle in Deutschland lebenden Menschen an die hiesigen Regeln halten. Daran müsste ich in jedem Fall festhalten.
Und dann kam jener Mittwoch. Als ich die Klingel viel später als sonst hörte, eilte ich freudig zur Tür in der Erwartung, das bekannte Lächeln von Michelle sehen zu können. Wie enttäuscht ich war, als eine stämmige Clara in der Tür stand. Missmutig stapfte sie hinein, verlor kaum ein Wort bei der Wundversorgung, war nicht gesprächig und verabschiedete sich alsdann mit eiligem Schritt.
Ich habe mich danach gleich ans Telefon gehängt. Michelle hatte sich einen Tag krank gemeldet. Als die Stimme am Telefon sagte, dass ab morgen wohl Clara regelmäßig kommen würde, war ich äußerst verärgert. Ich blökte die Dame an, dass ich die nie mehr sehen möchte. An Michelle hätte ich mich gewöhnt. Die ein oder zwei Wochen sähe ich nicht ein, mit anderem Pflegepersonal vorlieb nehmen zu müssen. Es wurde für einen Moment ruhig. Die Dame nahm wohl Rücksprache ...