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Die Stellvertreterin
Datum: 27.04.2019, Kategorien: Kunst, Autor: Anonym
Ein schnell und flüchtig bekritzelter Zettel auf dem Couchtisch im Wohn- und Gemeinschaftszimmer unserer Studentinnen-WG: „Du, liebe Gabi oder du liebe Babs. Ich muss heute ganz dringend nach Hamburg. Meine Ma liegt im Sterben. Krebs. Ist ganz schlimm und ich bin sehr beunruhigt. Könnte bitte eine von euch zweien mich heute ausnahmsweise vertreten? Terminkalender liegt unter diesem Blatt. Tut bitte, was möglich ist. Danke!!! Eure Manu.“ Ich konstatiere: Ein Notfall. Manuela musste schnell weg. Gabi ist gestern übers Wochenende und dann noch bis Mittwoch zuhause auf dem Bauernhof ihrer Eltern gefragt. Silberhochzeit. Die Höhen und die Tiefen des Lebens auf einen Schlag. Ich bin ganz alleine hier. Damit bin nun auch entsprechend unserer Abmachung bei Gründung der WG für die Erfüllung der Termine meiner WG-Genossin Manuela zuständig. Barbara hatte keine Wünsche geäußert. Bleibt also Manu. Das schaffe ich schon. Soweit es mir möglich ist und soweit ich dafür Zeit locker machen kann. Wir haben Semesterferien und ich habe viel Zeit. Sehr viel Zeit. Genau genommen hatte ich schon Angst, mich zu langweilen, weil keine meiner Freundinnen und keiner meiner Freunde erreichbar sind. Alle sind meilenweit weg. Fast wollte ich schon melancholisch werden. Warum dann also nicht? Es hat mich schon immer interessiert, was unsere lebenslustige schöne Manu so nebenbei macht. Sie hat uns nie alles verraten. Muss sie ja auch nicht. Aber neugierig bin ...
... ich schon. Sehr neugierig. Welches Weib ist das nicht? Um unsere Manuela schweben immer solche phantastischen Geheimnisse, dass es bei uns, Gabi und mir, schon immer ein elektrisches Kribbeln ausgelöst hat. Wie macht die das? Was macht die Manu, dass sie so ein verrücktes erfüllendes und befriedigendes Leben hat? Unter dem Blatt liegt tatsächlich ihr Terminkalender. Sehen wir mal für Heute: „16:00…18:00 Sitzung bei Andreas!“ Steht an oberster Stelle auf dem Zettel. Und dann: „eventuell erweitern um 2 Stunden, bringt das was? Weiß nicht. Schauen wir mal.“ Darunter hat Manu mit ganz kleiner Bleistiftschrift noch nachträglich die Adresse hingekritzelt: „Andreas Baal, Dresden Neustadt, Uferstraße 17b. (Dachgeschoss)“ keine Telefonnummer. Keine Chance, das abzusagen. Was ist das für eine Sitzung? Vielleicht wegen Manuelas Nebenjob als Vertreterin in gehobener Kosmetik? Vielleicht ist das wirklich wichtig für sie, wenn für sie da jemand mitschreibt? Ich werde also hingehen und Manuela vertreten. Es ist jetzt schon 17:32. Fast schon zu spät. Ich muss mich beeilen. Keine Zeit mehr für kleine Kinkerlitzchen wie Wimperntusche, Nägel neu lackieren oder gar duschen und Haare in Form bringen. Ich muss sofort los, wenn ich nicht krass verspätet ankommen will. Die Straßenbahn erwische ich in letzter Sekunde. Bei uns in Dresden kann man sich auf die Straßenbahn immer noch verlassen, wenn die Elbe nicht gerade Hochwasser führt. Die Straße und die ...