1. Die Verführung...


    Datum: 01.05.2019, Kategorien: Medien, Autor: Anonym

    Die Verführung
    
    Schon wieder keiner da. Mist! Zweimal war ich schon hier gewesen, vergeblich. Und auch jetzt öffnete niemand. Ich klingelte nochmal. Nichts.
    
    Es war ein hartes Brot, sich etwas dazu zu verdienen. Und für einen Schüler gab es nicht viele Möglichkeiten. Aber ich wollte ein Motorrad. Eine richtige Enduro. Eine Yamaha 125 DTE.
    
    Herbert wollte seine verkaufen. Aber das Ding kostete immer noch 1.200 Mark. Dabei war die Maschine schon fünf Jahre alt. So viel hatte ich nicht. Und den Führerschein mußte ich ja auch noch bezahlen. Fast alle in meiner Clique hatten schon lange einen fahrbaren Untersatz. Klaus-Peter fuhr die alte Kreidler seines Vaters, Thomas eine Geländemaschine, Dieter eine schnelle Herkules Ultra. Michael hatte sogar eine Aspes, mit Sechs-Gang-Schaltung.
    
    Und Marcus fuhr eine nagelneue Zündapp. Zum Schulabschluß würde er sogar eine richtige Rennmaschine bekommen, eine Zweizylinder. Aber seine Eltern waren auch wohlhabend. Meine leider nicht. Mama mußte sogar in der Bäckerei nebenan putzen gehen, um für uns drei Kinder genug zu haben.
    
    Nein, ein Motorrad würde ich nie geschenkt bekommen und ein Auto schon gar nicht. Nicht mal ein Mofa. Zu meinem siebzehnten Geburtstag war es ein neues Fahrrad gewesen. Immerhin ein Rennrad mit 10-Gang-Schaltung. Meine Mutter hatte bestimmt lange dafür geschuftet, aber ich hatte mich gar nicht richtig darüber freuen können. Ich wollte was Schnelleres, womit man auch bei den Mädels Eindruck machen konnte. Mit ...
    ... einem Fahrrad konnte man doch nichts reißen.
    
    Und jetzt war ich gerade achtzehn geworden und hatte immer noch nichts Richtiges unterm Hintern. Nicht mal das Fahrrad. Es war mir geklaut worden, direkt vorm Haus. Zehn Minuten abgestellt und weg. Warum hatte ich Trottel es auch nicht abgesperrt? Drei Tage lang hatte ich die ganze Stadt abgesucht, aber vergeblich. Das Fahrrad blieb verschwunden. Mama war so enttäuscht, sie hatte heimlich geweint. Doch das brachte mir das Stahlroß auch nicht zurück.
    
    Wenn ich die Zeitungen austrug, jeden Donnerstag-Abend, mußte mir mein Bruder sein altes Ding leihen. Das klapperte und war rostig, aber immerhin konnte es die Last des Papiers tragen. Er fuhr ja schon lange ein richtiges Auto, einen aufgemotzten Fiat 128. Doch sein Fahrrad lieh er mir trotzdem nur ungern. Und jetzt mußte ich laufen. Ich war am Kassieren.
    
    Einige der Abonnenten des „Kreis-Anzeigers“ bezahlten schon per Überweisung, aber die meisten lieber in bar. So lief ich alle drei Monate durch die Straßen des Viertels und kassierte das Geld persönlich ein. Eine mühselige Sache, aber anders ging es nicht.
    
    Heute war es besonders ätzend. Drei Stunden war ich schon unterwegs und es regnete in Strömen. Aber morgen mußte ich abrechnen. Und wenn nicht alle bezahlt hatten, bekam ich weniger Geld. Meine Jacke war längst durchgeweicht und die Kapuze hielt den Regen nicht ab. Auch der Quittungsblock, sorgfältig in der Innentasche verstaut, hatte was abbekommen.
    
    Ich war müde. Und ...
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