Opernnacht-Der Wendepunkt
Datum: 22.04.2018,
Kategorien:
Schamsituation
Autor: Anonym
Über das Stadtpalais hatte sich dunkle Nacht gelegt.
Die eben geendete Abendvorstellung der lokalen Schauspielgruppe spülte eine handvoll Menschen auf den von romanisch emporragenden Sakralbauten umzingelten Rathausplatz.
Es war lau, der ansonsten lästige Nordwind hatte sich hinter die Alpen zurückgezogen und an seine Stelle war der wärmere, leise Südwind getreten, der die Pappelallee vor der Piazza rascheln ließ.
Im Gebüsch sang leise eine Nachtigall und jene wenigen Menschen, die tratschend und unruhig vor den Eingangstüren herumtrippelten, freuten sich über die uneingeladene Sängerin zu später Stunde.
Unter ihnen war auch Lilli, eine Kunsthistorikstudentin aus der nahen Großstadt.
Ihre Freundin hatte sie hierher gelockt, denn dies war deren Heimatort und ihr ältester Bruder spielte die Hauptrolle in diesem Macbeth-Verschnitt, den der Theaterverein verbrochen hatte.
Wenigstens spielte dessen Ehefrau die Lady, so dass wenigstens der obligatorische Kuss einen raren schauspielerischen Höhepunkt barg.
Entnervt blickte Lilli auf ihr iPhone.
Simon, ihr derzeitiger Freund hatte sich seit dem frühen Abend, als sie mit der S-Bahn losgefahren waren, nicht mehr gemeldet.
Er war wohl auf dieser Bunker-Party im neuen Nachtclub in ihrer Straße.
Die ganze WG war dort.
Nur sie nicht!
Was tat man nicht so alles für seine beste Freundin!
Zumal Kati ja nach diesem Aufenthalt in der Magersucht-Klinik sowieso Narrenfreiheit hatte!
"Lilli dies – Lilli ...
... das!
"Mea culpa!", dachte sie sich, schließlich hatte sie ja gesagt: "Ich bin immer für dich da, mein Schatz!"
Und jetzt also diese unfreiwillig komische Shakespeare-Reminiszenz!
Da kam Kati auch schon und griff ihr von Hinten an die Schulter.
"Hey Süße!", flötete sie, "kommst mit zur Aftershow-Party im Trödler?"
Der "Trödler" war die Stammstischkneipe der Kleinstadt und beherbergte vorallem diejenigen Bergarbeiter, die rein mental die Schließung ihrer Braunkohlegrube noch nicht verwunden hatten und mit dem ein oder anderen Glas Doppelkorn in Erinnerungen schwelgten.
Lilli ekelte das an, Alkoholmissbrauch lag ihr fern, ihr Vater war Alkoholiker gewesen und hatte oft im Suff die entwürdigsten Aktionen gebracht, so dass sie die Lust auf das flüssige Delirium für immer als entwertende Perversion schien.
Aber was sollte sie machen?
Im Trödler war außer heißer Luft und Schweiß auch eine unfreundliche, fette Barfrau zugange, die Lilli auf die Frage, ob sie den eine Apfelschorle haben könne, nur ein bräsiges: "Hamma nicht!" entgegenklatschte.
Die Schauspieler waren ähnlich drauf, irgendjemand hatte so eine schreckliche Rocknummer aufgedreht, eine lausige Indie-Sache aka Arctic Monkeys, jedenfalls bluteten ihr nach wenigen Minuten die Ohren und sie ging höchst entnervt nach draußen, vor die Tür, auf die verlassene Hauptstraße.
Dort wehte jener kalte Wind natürlich weiterhin ungehemmt und zerstob ihre Frisur und tausend struppige Strähnen, die ihr nun wirr ...