Vier Jahre Schweigen
Datum: 09.03.2018,
Kategorien:
Schwule
Autor: byRolf_Udo
... ihn. Nur ganz zart auf seine roten Lippen, nur für einen kurzen Moment, und die Welt schien aufzuhören, sich zu drehen. Er stieß mich nicht beiseite, er schrie mich nicht ärgerlich an. Er sah mich nur mit weit geöffneten Augen an und ich spiegelte mich in ihnen, wie in einem grünen See.
Ich war verschreckt, durcheinander und verstört. Ich konnte ihn noch nicht einmal etwas Blödes anbieten, ihn bedrohen, versprechen seine Hausaufgaben den Rest meines Lebens zu machen im Tausch für sein Schweigen. Nein, stattdessen sprang ich auf, rannte aus seinem Zimmer und versteckte mich für Jahre, bis heute, wo ich nicht mehr wegrennen konnte. Jetzt war ich mir über mich klar geworden, aber er hasste mich. Meine pure Existenz hatte ihn zu jemanden verwandelt, der sich vor allem und jedem versteckte.
Seine Augen waren kalt geworden, und die Seele, die ich darin gesehen und geliebt hatte war beschützt von einer dicken Haut, die er sich über die Jahre hatte wachsen lassen. Auf dem Heimweg hatte ich mich gefragt, ob er sich für dieses Jahr einen noch extremeren Look hatte einfallen lassen, aus einem bestimmten Grund. Verdammt! Ich mochte ihn trotzdem, die Art wie sein rabenschwarzes Haar mit seiner hellen Haut kontrastierte und wie seine Augen dazu passten. Die schwarzen Eyeliner, die man sehen konnte, wenn er mich anschaute, dazu der schwarze Nagellack und seine Ohrringe fügten sich ins Gesamtbild.
Ich erinnerte mich an das Glitzern des Metallrings, den er durch seine Unterlippe ...
... gepierct hatte. Manchmal nimmt man eine Menge Dinge in sich auf, auch ohne direkt hinzuschauen, wenn man sich drei Stunden lang anstarrt. Was ich an ihm äußerlich gesehen hatte, war konträr zu dem Niklas, den ich kannte. Aber ich erkannte auch den Schmerz, den Ärger. Er hatte mir immer noch nicht vergeben, ihn an diesem Nachmittag verlassen zu haben. Obwohl er sich hinter seiner Tarnung versteckte, hatte ich das erkannt.
Ich hatte einen Annäherungsversuch unternommen, und er wusste nicht, warum. Welchen Grund sollte ich haben, mich plötzlich um ihn zu kümmern? Und wenn er mir vergeben würde und mich wieder in sein Leben ließ, welche Garantie hatte er, dass ich nicht wieder weglaufen würde, das kleine Bisschen Seele zerstörte, welches er mit seiner Maskerade zu schützen versuchte?
Erst am nächsten Wochenende war ich wieder mit den Jungs im Park und sah ihn wieder. Ich hatte in der Schule nach ihm geschaut, ich sah ihn am Montag nicht und auch nicht am Dienstag. Mittwochs hatte ich das Gefühl, er versteckte sich vor mir, obwohl, wenn ich genau nachdachte, hatte ich ihn auch die letzten Monate nicht gesehen. Besuchte er die Schule noch?
Ich hätte an seine Haustür klopfen können. Das war die letzten vier Jahre nicht passiert, obwohl er im Nachbarhaus wohnte. Das wäre kein guter Plan gewesen, ahnte ich. Mein Vater hatte sogar ein kleines Tor zwischen unseren Gärten gebaut, damit wir uns besser besuchen konnten. Eingerostet war es vier Jahre lang nicht benutzt worden.
Ich ...