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Ein Leben in Bedrangnis 09
Datum: 16.05.2020, Kategorien: Romane und Kurzromane, Autor: byachterlaub
Schon wieder verkürzten sich die Tage als untrügliches Zeichen für die allmählich herannahende Wintersonnenwende. Es war kühl und feucht geworden. Meist verbrachte ich die Abende zu Hause. Mein Bedürfnis nach Wärme widerstand in dieser spätherbstlichen Zeit dem Wunsch, sich die Welt untertan zu machen. Obwohl ich mit keinen Eingängen ernsthaft rechnete, gehörte der tägliche Gang zum Briefkasten zu den spannend erwarteten Ereignissen. Meist fand sich allerdings nur Reklame. Doch eines Tages hielt ich eine Drucksache in der Hand. Das muss eine Einladung sein, erkannte ich sogleich, und riss den Umschlag fieberhaft gespannt auf. Tatsächlich. Binh gab sich die Ehre. Sie heiratete den jungen Mann, von dem sie mir schon vor Zeiten berichtet hatte. Wir waren seit unserer Affäre in Kontakt geblieben. Gelegentlich erreichte mich ein Anruf von ihr. Dann konnte es sein, dass wir für eine Stunde oder länger uns unsere Geheimnisse beichteten. Auch ich habe mich in größeren Zeitabständen bei ihr gemeldet. Sie kannte daher meine aktuelle Adresse. Unser letztes Gespräch lag nun schon ein gutes halbes Jahr zurück, dachte ich bei mir. So freute ich mich still auf ein Wiedersehen. Denn es lag nun bestimmt bald zwei Jahre zurück, dass wir Auge in Auge gegenüber gesessen hatten. Ich würde dieses Treffen genießen und durchaus auch gespannt sein, wie mir ihr Bräutigam gefällt. Meine ermüdeten Lebensgeister waren durch diese Nachricht belebt. Binh war ein Stückchen weit weg gezogen in ...
... eine kleine Nachbargemeinde. So wäre noch eine Pension für die Nacht zu buchen. Binh hatte mir den Prospekt eines Hotels Garni beigefügt. Dort würde ich voraussichtlich Quartier nehmen. Die Preise lagen deutlich am unteren Ende des Üblichen. Dann müsste ich mich um ein Geschenk kümmern. Glücklicherweise hatte sie mir eine Liste beigefügt. Ich entschied mich für ein Kaffeeservice und machte mich schon am nächsten Sonnabend auf den Weg in die Stadt in ein angesehenes Haushaltswarengeschäft. Die Brauleute hatten sich für Villeroy und Boch entschieden. Das war in der Tat eine gute Wahl. Mir hatte immer irgendeine Kaufhausware genügt, weil ich wusste, dass mir nach dem Ableben meiner Eltern deren gutes Porzellan von Hutschenreuter zufallen würde. Von nun an drehte sich überhaupt alles um jenen besonderen Tag. Ich begann mir Binh als festliche Braut vorzustellen. Ihr schlanker Leib würde durch ein ganz schlichtes weißes Kleid in seiner Silhouette unterstrichen. Ihre Augen würden feucht glänzen vor Rührung, vor Zuneigung zu ihrem Gemahl. Und ich dürfte diese wunderbare junge Ehefrau vor Begeisterung herzen und drücken. So ziemlich alles stellte ich mir in den herrlichsten Farben und Formen vor. Ja, es ging so weit, dass ich in meiner Vorfreude den Reisekoffer schon zwei Wochen vor der Abfahrt fertig gepackt in der Garderobe stehen hatte. Alles andere schien mir in jenen Tagen nebensächlich. Mich mag manche junge Frau mit begehrenden Augen angefunkelt haben. Ich hätte es ...