Großmutters Ring
Datum: 24.10.2020,
Kategorien:
Insel der Scham,
Autor: derpoet
Vor einigen Wochen war meine Oma verstorben.
Es kam nicht überraschend. Ihre Krankheit hatte sich lange hingestreckt und ihr Tod war letztendlich eine Erlösung für alle. Dennoch erfüllte er mich mit tiefer Trauer. Oma war für mich immer wie eine zweite Mutter gewesen. Dadurch, dass meine Mutter früh wieder ihren Beruf aufgenommen hatte, verbrachte ich als Kind mehr Zeit bei ihr, als Zuhause.
Die ganze Familie hatte sich eingefunden, um ihr Haus zu räumen. Container wurden aufgestellt, um alles Überflüssige zu entsorgen. Brauchbares reihten wir sorgfältig im großen Wohnzimmer auf. Ich hatte mich bereit erklärt, den Dachboden in Angriff zu nehmen.
Hilflos saß ich in Mitten von Kisten und überlegte, wo ich anfangen sollte. Ich öffnete den ersten Karton. Ein Lächeln überkam mich, als ich alte Puppensachen darin entdeckte. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie sie mit mir vor dem Kamin saß. An ihrer alten Puppe Helga, hatte sie mir beigebracht, wie man einen französischen Zopf flochte.
Eine Träne kullerte über meine Wange, als ich das alte Ding in meinen Händen hielt. Die langen, blonden Kunsthaare, waren zu einem sorgfältigen Zopf geflochten.
Ich verschloss den Karton wieder und schrieb mit einem Filzstift meinen Namen drauf. Es wäre zu schade, wenn diese Erinnerungen in der Müllverbrennung enden würden.
Ich arbeitete mich weiter vor. Immer wieder mühte ich mich die schmale Treppe auf und ab. Entsorgte einen Stapel Zeitschriften, uralte Schuhe und ...
... Kisten voller Hemden, die wohl noch von Opa stammten. Dazwischen kamen gelegentlich Schätze zum Vorschein, die es wert waren, sie ins Wohnzimmer zu tragen. Ein Karton voller alter Fotoalben, ein antikes Radio und sogar eine Münzsammlung, die vielleicht sogar einen gewissen Wert haben könnte.
Als ich die nächsten Kisten ins Licht schob, kam hinter ihnen ein kleines Schmuckkästchen zum Vorschein. Total verstaubt, stand es hinter den anderen Sachen in der Dachschräge. Es machte fast den Eindruck, als hätte Oma es hier versteckt.
Neugierig hielt ich es in meinen Händen und befreite es von einer dicken Schicht Staub. Es sah aus, wie selbst gebaut. Zusammengenagelt aus dünnen Holzbrettchen und mit Muscheln verziert. Ich öffnete den Deckel und betrachtete seinen Inhalt.
Hatte Oma hier etwa Erinnerungen an eine vergangene Liebe versteckt? Mit großen Augen, holte ich eine kleine, getrocknete Rose aus dem Kästchen. Sie war inzwischen fast schwarz und fühlte sich an, wie poröses Papier. Vorsichtig legte ich sie neben mich und erkundete den restlichen Inhalt. Ein Ring lag, in Watte gepolstert auf einem kleinen Buch. War das etwa ein Tagebuch?
Ich konnte kaum erwarten, einen Blick in das Buch zu werfen, doch der Ring zog mich magisch an. Er sah sehr wertvoll aus. Ein riesiger, weißer Stein war darin eingefasst. War das ein Opal? Sicher war es nur eine Nachbildung. Der Stein schimmerte im fahlen Licht des Dachbodens und beinahe erweckte er den Eindruck, als ob sich sein Inneres ...