1. Ein Leben in Bedrangnis 05


    Datum: 30.11.2020, Kategorien: Romane und Kurzromane, Autor: byachterlaub

    Endlich allein
    
    Man muss sich unser Verhältnis nicht so vorstellen: Nadine pfiff, und ich flitzte sogleich mit zu Boden gesenktem Blick zu ihr. Wir waren stets auf gleicher Augenhöhe. Es gab indes Momente, namentlich die intimen, in denen ich mich sinnbildlich niederkniete, um all ihre Herrlichkeit aus breiterer Perspektive beobachten zu können. Der Fotograf weiß um die Bedeutung des Abstands für das Gelingen eines perfekten Bildes. Und ich verstand mit der Zeit, den rechten Abstand zu Nadine zu finden. Schiller hat dies in dem Gedicht Der Gang nach dem Eisenhammer wie folgt formuliert:
    
    Ein frommer Knecht war Fridolin,
    
    Und in der Furcht des Herrn
    
    Ergeben der Gebieterin,
    
    Der Gräfin von Savern.
    
    Sie war so sanft, sie war so gut;
    
    Doch auch der Launen Übermuth
    
    Hätt' er geeifert zu erfüllen
    
    Mit Freudigkeit, um Gottes willen.
    
    Ich blieb mein eigener Herr, aber ich scheute mich nicht, Nadine von Zeit zu Zeit die Oberhand gewinnen zu lassen.
    
    Gleichwohl war ich im folgenden Sommer ausgelaugt. Die Arbeitsstelle hatte mich mehr als sonst gefordert. Im Betrieb gab es erhebliche Probleme. Wir haben fast ein Viertel der Belegschaft entlassen müssen. Das Schlimmste war das ungeklärte Verhältnis zu meinen beiden Frauen.
    
    Binh wusste immer noch nicht davon, dass Nadine seit Monaten wieder in mein Leben getreten war. Und Nadine wurde von Woche zu Woche zügelloser. Mein letzter Besuch endete in einer wüsten Beschimpfung. Ich hatte kaum mein Jacke abgelegt, da ...
    ... fuhr sie mich an. „Lass endlich deine Schlampe fahren. Ich muss kotzen, wenn ich daran denke, dass du deinen Schwanz in ihre dreckige Votze steckst."
    
    Als ich sie mit einer sanften Umarmung beruhigen wollte, stieß sie mich von sich. „Geh doch deine Nutte ficken. Mich lässt du in Ruhe." Nadine hatte ihr Herrisches verloren. Sie war in diesem Augenblick keine Gebieterin mehr, sondern nur noch ein eifersüchtiges zänkisches Weib. Ich beschloss daher noch in der Diele zu gehen.
    
    Auf dem Heimweg wurde mir klar, dass sich etwas Grundlegendes tun müsse. Das Wochenende stand vor der Tür, ich packte meine Reisetasche und machte mich zum Bahnhof auf.
    
    Ich würde den nächsten Zug nehmen und irgendwo nach zwei oder drei Stunden Fahrt aussteigen. So bin ich in Lüneburg gelandet. Der Taxifahrer brachte mich nach etwas außerhalb. Ich hatte ihm gesagt, ich bräuchte Ruhe und wolle ein wenig durch die Heide wandern.
    
    Erst von meinem Quartier aus habe ich Binh angerufen. Sie hatte sich schon mächtig Sorgen gemacht. Von einer Auszeit habe ich natürlich nichts gesagt. Ich schwindelte etwas von überraschender Fortbildungsveranstaltung, und spätestens am Sonntag Abend wäre ich wieder zu Hause.
    
    Es war seit Monaten die erste Nacht, die ich allein verleben durfte. Die Junisonne hatte schon Kraft. Das kleine, eher spartanisch einfach eingerichtete Mansardenzimmer genügte mir.
    
    Mein Blick streifte über die karge, gleichwohl nicht eintönige Landschaft, auf deren Sandboden nur Heide, Wacholder und ...
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