1. Rapunzel 03


    Datum: 11.06.2018, Kategorien: Romane und Kurzromane, Autor: byJoanWilbury

    Ein paar Stunden trieb Tanita sich in der Stadt herum, schlenderte durchs Einkaufszentrum, durchstöberte Klamotten- und Buchläden ohne sich für irgendetwas zu interessieren. Sie wollte einfach nur die Zeit totschlagen.
    
    Nach einer Ewigkeit zeigte die Uhr endlich die herbeigesehnte Stunde an und sie machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Als sie mit den vielen anderen Leuten in das überheizte Fahrzeug drängte, fragte sie sich zum wiederholten Mal, was Mick wohl in diesem Moment tun mochte. War er zu Hause oder suchte er womöglich nach ihr? So oder so -- er war auf jeden Fall verdammt wütend.
    
    Und sie konnte sich nicht gegen ihr schlechtes Gewissen wehren. Sie war abgehauen, hatte sich klammheimlich davon geschlichen. Aber was hätte sie anderes tun können? Wie hätte sie Mick erklären sollen, was sie vorhatte -- was sie tun musste? Er hätte nie im Leben verstanden, warum es ihr wichtig war und sie bestimmt nicht gehen lassen. Und schon gar nicht hingebracht.
    
    Tanita probierte verschiedene Klingelknöpfe durch, als sie unten vor der Haustür stand. Beim vierten Mal ertönte der Summer, ohne dass jemand nachfragte, wer denn da wäre. Sie drückte die Tür auf und stieg die Treppe hoch in den zweiten Stock. Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. Die Uni war noch nicht lange aus, es würde eine Weile dauern, bis er nach Hause kam. Hoffentlich nicht zu lange. Sie machte es sich auf der kalten Treppe so bequem wie möglich und wartete.
    
    „Tana!"
    
    Verwirrt blinzelte sie. ...
    ... War sie etwa eingeschlafen? Vor ihr schwebte im schummrigen Treppenhauslicht Magnus' Gesicht. Seine blaugrauen Augen sahen sie halb entgeistert, halb besorgt an.
    
    „Hi", lächelte sie ihn schief an. „Darf ich kurz reinkommen?"
    
    Ohne zu zögern reichte er ihr die Hand und half ihr auf die Füße. „Mensch, ich hab mir Sorgen gemacht um dich! Du warst vorgestern so komisch und dann gestern und heute nicht in der Uni... Hätt ich deine Nummer gehabt oder 'ne Adresse..."
    
    „Es geht mir gut", unterbrach sie ihn ruhig. „Aber du hattest recht am Mittwoch. Ich schulde dir eine Erklärung."
    
    „Dafür, was die letzten Tage mit dir los war?"
    
    „Für alles."
    
    Magnus schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und ließ sie eintreten. „Okay. Ich bin gespannt. Willst du 'nen Tee oder so?"
    
    „Gern."
    
    Schließlich saßen sie einander am kleinen Küchentisch gegenüber, beide mit einem Becher dampfendem Rotbuschtee in den Händen. Magnus beugte sich vor und schaute ihr aufmerksam in die Augen.
    
    „Ich bin so weit", sagte er. „Erzähl."
    
    Tanita schüttelte den Kopf und griff in die Gesäßtasche ihrer Jeans, zog fünf vollgeschriebene, sorgsam gefaltete Seiten heraus und reichte sie ihm.
    
    „Lies", forderte sie ihn auf.
    
    Während er verwundert das Papier auseinander faltete und ihrer Bitte nachkam, lehnte sie sich zurück, wärmte ihre kalte Wange am Teebecher und schloss die Augen. Sie wusste noch genau, was sie da gestern geschrieben hatte. Fast jedes einzelne Wort.
    
    „Hey, ich bin Mick. Mick wie ...
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