Rapunzel 03
Datum: 11.06.2018,
Kategorien:
Romane und Kurzromane,
Autor: byJoanWilbury
... Die erste von vielen interessanten Unterrichtsstunden in Musikgeschichte. Er hatte -- und hat immer noch -- ein unglaubliches Erzähltalent. Wahrscheinlich könnte er sogar noch das Telefonbuch spannend rüberbringen. Auf jeden Fall verlor ich im Verlauf seiner Geschichte meine Scheu vor ihm.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihn danach wiedersah. Meine Tante hatte Schluss mit ihm gemacht und ihn aus der Wohnung geschmissen, ohne sich darum zu scheren, dass er jetzt kein Dach mehr überm Kopf hatte. Er tingelte eine Zeitlang von Kumpel zu Kumpel, bis meine Eltern, die ihn wirklich gern hatten, ihm anboten, doch zu uns zu ziehen. Zumindest vorübergehend könnte er sich im Arbeitszimmer meiner Mutter einquartieren. Nach einigem Hin und Her -- er war schon immer zu stolz um Hilfe anzunehmen -- willigte er schließlich ein.
Von wegen vorübergehend. Mick gehörte bald genauso zur Familie dazu wie ich und fühlte sich viel zu wohl um sofort auf die Suche nach einer neuen eigenen Wohnung zu gehen. Für mich war er wie ein großer Bruder. Ein um einiges älterer zwar, aber er behandelte mich niemals wie ein dummes Kind. Ich konnte ihn alles fragen und er gab mir eine Antwort. Nicht, dass meine Eltern mich nicht ernst genommen hätten, aber mit Mick konnte ich anders reden. Von ihm kamen keine Sätze wie: „Das erfährst du noch früh genug." oder „Dafür bist du noch zu klein."
Abends hatte ich keine Lust mehr, fern zu sehen. Wenn er da war, ging ich lieber zu Mick, hörte mit ihm Musik ...
... und ließ mir Geschichten über längst vergessene Bands erzählen. Die
Pretty Things
oder die
Kinks
zum Beispiel. Meiner Meinung nach um Längen besser als zum Beispiel die hochgejubelten
Rolling Stones
, aber wer kennt sie heute noch?
Meine Mutter ermahnte mich manchmal, ich sollte nicht so an ihm kletten, er würde schließlich auch mal seine Ruhe haben wollen.
„So ein Quatsch", versicherte Mick mir im Gegensatz dazu. „Wenn du mir auf die Nerven gehst, wirst du 's schon merken. Du kannst jederzeit zu mir kommen, so lange ich dir nicht zu langweilig werde."
Langeweile? Davon konnte keine Rede sein. Damals spielte er noch in einer Band und ließ mich oft zuhören, wenn er Gitarre und Mundharmonika übte. Er wollte jedes Mal meine Meinung dazu wissen, sie schien ihm wirklich wichtig zu sein.
Etwas länger als ein Jahr dauerte dieser Zustand an. Ich hatte mich so daran gewöhnt, fast jeden Abend bei ihm im Zimmer zu hocken, während er auf dem Bett lag und Musik laufen hatte oder sich mit mir unterhielt, dass ich aus allen Wolken fiel, als er eines Tages verkündete, er habe nun eine eigene Wohnung gefunden und werde ausziehen. Aus irgendeinem Grund dachte ich, es wäre meine Schuld. Ich wäre ihm doch zu sehr auf die Nerven gegangen und hätte ihn jetzt vertrieben oder so. Aus dem Heulen kam ich kaum noch heraus und verschanzte mich in meinem Zimmer. Mick schaffte es im Gegensatz zu meinen Eltern irgendwie, von mir hereingelassen zu werden.
„Hör mal", sagte er ...