1. Nachtgedanken


    Datum: 30.07.2018, Kategorien: Romane und Kurzromane, Autor: byEmaSen

    ... dass es möglich war; nicht nur, dass er es getan haben könnte, sondern dass es ein Experiment war, das sich wiederholen ließe -- und das sich lohnen könnte.
    
    Allerdings glaubte sie ebenso an die ekstatische Rührung, die die ganze Welt überfallen musste, fände tatsächlich ihr Groß- oder Urgroßvater bei einem Spaziergang auf dem Erdboden den Körper ihrer Urenkelin zerschmettert an einer Fichtenkrone.
    
    Und der Glaube an diese Rührung des Selbstmordes, dieses unbedingte, galaktisch überwältigende Gefühl, war es wohl, das ihr Leben zu einem ruinösen Ball aus Furcht und Trotz und Zorn formte, und es ihr nicht erlaubte, jene Konstruktionsskizzen endlich aufzuzeichnen, die ihr an den guten Abenden im Kopf herumgeisterten. Die Abende, an denen sie noch in den blauen, sich langsam tintig einfärbenden Himmel blicken konnte und an Fluggeräte dachte. Nicht an das Fehlen der Sterne und die Widerwärtigkeit von Mondstrahlen.
    
    -- Da ging in ihrem Rücken die Tür. Ein Lächeln rückte über ihre schlaffen Züge wie als hätte man ihr Gesicht mit einem Lappen davongewischt. So hatte sie eben auch schon umhergeblickt, als sie noch zwischen den Orchesterklängen leichtfüßig umhergewandelt war: Mit funkelnden, lustigen und zuweilen sinnlich verharrenden Äuglein, züchtig geschminkt, aber mit feurig puterroten Lippen.
    
    Diese Maske aber bröckelte sofort wieder weg, als sie sah, wer sich da hinter dicken Holzbohlen und Eisenbeschlägen hervorschlängelte.
    
    »Jayden.« grüßte sie ihr Bruder.
    
    Sofort ...
    ... stürzte sie auf ihn zu und schlang ihn in ihre Arme. Ihre Wange begann auf seiner Brust zu glühen. Ein ganzer Lastkran an ihr schien plötzlich das Seil der Schwerenot gekappt zu haben und so viel Trauer und Frust sprang von ihr ab.
    
    Auf sein raues olivgrünes Wams drückte sie die erste vorsichtige Träne dieses Abends. Sie versicherte sich über diesen kleinen feuchten Fleck, der ihm nicht auffallen würde, ihr aber bewies, dass sie noch fühlte und es durchaus noch Wichtigkeiten in ihrem Leben gab, bevor sie ihr Kinn hob um ihn, über seine kurzgeschorenen Bartstoppeln hinweg, anzublicken.
    
    »Zack.« flüsterte sie. »Ich habe dich so vermisst.«
    
    Er maß sie mit einem langen besorgten Blick. »Ich habe meine Freunde weggeschickt um hierherzukommen. Ich wusste du würdest hier unten sein. Dich wieder deinen kruden Träumen hingeben. Ich soll dir von Mutter ausrichten, wenn du nicht bald mal deine Schneiderlehre wieder in Gang setzt, setzt sie dich vor die Tür. Und du sollst dich möglichst bald Rikon präsentieren.«
    
    Sie ließ ihre Arme fallen und wich einen Schritt vor ihm zurück wie geschnitten. »Du riechst nach Zimt. Warst du im Morgenland?« fragte sie nur, seine Botschaft ignorierend, als wäre sie nicht da.
    
    Sie stellte sich manchmal vor, sie könnte einfach ihre Pupillen durchwechseln, von rechts nach links rüberschieben wie ein Signalschild. Einfach alles, was das vorige Augenpaar gesehen hatte, verdrängen und einem frischen, babyreinen, klarblauen Platz machen. Die Farbe ihrer ...
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