Blinde Wut (1)
Datum: 12.04.2022,
Kategorien:
Romantisch
Autor: Plautzi
... Nacht beschäftigt sein.
Ja, und genauso ist es dann auch. Die letzte Nacht steckt mir in den Knochen. Den ganzen Tag rächt sich der Schlafmangel. Immer wieder muss ich mit weit aufgerissenem Mund gähnen. Die trockene Büroluft macht es nicht besser. Ich bin froh, dass ich nach Feierabend endlich an die frische Luft komme. Mit gemischten Gefühlen nähere ich mich dem Brunnen. Zusammengekauert sitzt sie da, wie ein Häufchen Elend. Langsam trete ich an sie heran.
"Hallo Josh, schön dass Sie da sind." begrüßt sie mich unvermittelt. "Ich habe das Rasierwasser gerochen. Und das benutzt hier sonst niemand." damit erklärt sie, woran sie mich erkannt hat, denn gesagt habe ich bis jetzt noch nichts.
"Hallo Nele, ich freue mich auch Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen heute?"
Sicher nicht der klügste Einstieg in ein Gespräch, aber was Geistreicheres fällt mir gerade nicht ein. Ich bin nicht geübt im Umgang mit blinden Menschen. Ihre Behinderung macht mich unsicher. Lässt mich zurückhaltend sein, was ich sonst nicht bin. Immerhin habe ich mich gestern schon getraut sie anzusprechen. Ein erster Schritt.
"Ich habe Ihnen etwas Neues zum Anziehen mitgebracht. Nichts Besonderes, nur ein paar neue Shirts, eine Hose, und eine Jacke. Ich würde mich freuen, wenn Sie die Sachen annehmen und anprobieren würden.
Wenn sie nicht passen, kann ich sie vielleicht umtauschen."
Ich drücke ihr die Griffe der Plastiktüte in die Hand. Ihre Augen blicken in meine Richtung. Wenn sie könnte, ...
... würde sie mir jetzt tief in meine Augen sehen.
"Was ... aber ... Nein, das kann ich nicht annehmen. Bitte nehmen Sie das wieder mit." In ihren Augen hat sich Tränenflüssigkeit gesammelt. Aber noch nicht genug, um als glitzernde Perle über ihre Wange zu rollen.
"Nein, das werde ich nicht tun. Ich will Ihnen wirklich nichts Böses. Versprochen. Bitte prüfen Sie die Sachen erstmal. Wenn es Ihnen passt, würde ich mich sehr freuen, Sie morgen darin zu sehen."
Vorsichtig fasst sie in die Tasche und befühlt den Stoff. Ein Teil nach dem Anderen holt sie aus der Tasche, faltet es auseinander und lässt es sich durch die Hände gleiten, um es dann in einem Knäuel vor ihre Nase zu drücken. Tief atmet sie den Duft der frischen Wäsche ein. Es muss lange her sein, dass ihre Lungen den Geruch von Waschmittel und Weichspüler eingeatmet haben.
Es wird Zeit, dass ich ihr ein Taschentuch reiche. Erst rechts, dann links, laufen ihr im Wechsel die Tränen herunter. Immer wenn eine davon an ihrem Mundwinkel angekommen ist versucht sie, diese mit ihrer Zungenspitze abzulecken.
Ich kann mich erinnern, dass ich das als Kind auch oft versucht habe, und dann über den salzigen Geschmack erschrocken war. Aber warum tut sie das, sie ist eine erwachsene Frau. Braucht sie die spärliche Flüssigkeit, hat sie Durst?
"Nele, ich möchte mich kurz vorstellen. Ist das Ok?" frage ich sie vorsichtig.
Sie nickt zögerlich zurück. Wenigstens schickt sie mich nicht wieder weg, wie gestern noch. Ich bin ...