1. Reifeprüfung


    Datum: 10.06.2024, Kategorien: Betagt, Autor: bySilberstreifen

    ... etwas vergessen ließen.
    
    Je näher der Tag der Anreise kam, umso mehr störte es mich aber dann doch, dass ich dem Hausgast zustimmte und sich ein völlig fremder Mensch in unserem Haus aufhalten durfte. Die Privatsphäre war erst einmal futsch, auch wenn man sich im Notfall aus dem Weg gehen konnte, ein paar Einschränkungen musste ich wohl in Kauf nehmen.
    
    Da Alexander den jungen Mann selbst noch nicht kannte, gab es auch keine genaue Beschreibung, nur dass er als sehr begabt galt und aus einem kleinen Dort in der Normandie stammte, wo er bei seiner Mutter aufwuchs. Das waren wohl die Informationen, die er aus der Personalakte des Unternehmens entnommen hatte. „Typisch Mann -- mich hätten andere Dinge viel mehr interessiert. Das werde ich dann wohl selbst herausfinden müssen!" gab ich Alexander zu verstehen, weshalb mich so etwas in seinen Augen „Unwichtiges" auf die Palme brachte.
    
    In den letzten Tagen vor seiner Anreise war unser französischer Besucher dann immer mehr DAS Gesprächsthema. Immer neue Fragen beschäftigten mich, auch hier war Alexander keine große Hilfe: „Wenn Du schon so viel fragst und über ihn wissen möchtest, freust Du Dich ja doch ein bisschen, dass wir einen Gast bekommen!" Alexander hatte mich ertappt. Je größer meine Bedenken wurden, umso interessierter war ich auch, wer dieser junge Mann war und wie die gemeinsame Zeit verlaufen würde. Ein Foto hätte mir ja auch schon mal geholfen doch auch meine heimliche Recherche auf Facebook war leider ...
    ... erfolglos.
    
    Dann war der Moment der Ankunft gekommen. Es war Anfang Juni und ich saß mit einem kühlen Gin-Tonic und einer Zigarette auf unserer Terrasse. Es war einer dieser seltenen Tage an denen man sich am liebsten keinen Zentimeter bewegt. Das Thermometer hatte schon vor ein paar Stunden die 30 Grad-Marke überschritten. Selbst im Schatten war es kaum auszuhalten. Unter meinem überdimensional großen Sonnenschirm genoss ich die vereinzelten Windbrisen, die meinen Körper umschmeichelten und für wenige Sekunden für ein bisschen Abkühlung sorgten. So sehr ich mich noch vor kurzem nach wärmeren Temperaturen gesehnt hatte, der Übergang von Kalt auf Warm ging nun definitiv etwas zu schnell.
    
    Von draußen hörte ich wie sich ein Motorengeräusch immer lauter unserem Grundstück näherte. Kurz darauf folgten männliche Stimmen und das Öffnen unserer Haustür. Alexander hatte früher Feierabend gemacht, um unseren Gast nach Hause zu bringen. Im Begleitschutz von Alexander stand plötzlich und junger, gutaussehender Mann vor mir. Wir stellten uns gegenseitig mit festem Händedruck vor und ich musterte ihn von oben bis unten. „Leonard", mit einem süßen französchen Akzent untermalt, passt sein Name zu ihm. Er ist einen guten Kopf größer als ich, hat strahlend blaue Augen, weiche und sehr gepflegte Hände. „Ein hübscher und sympathischer Kerl!" dachte ich mir.
    
    Mit einer schüchternen Geste streichte er danach sein langes, dunkles Deckhaar zurück, das weich in sein Gesicht fiel. Ohne zu ahnen, wie ...
«1234...23»