Weihnachten bei Buddenbrooks
Datum: 28.10.2018,
Kategorien:
CMNF
Autor: baer66
... Gegenwart fühlt er sich einfach stark und frei, was er unter den strengen Augen seiner Familie zu Hause nie sein kann.
Nun ist der Heilige Abend endlich da! Das feierliche Fest kann in der gebotenen Würde gefeiert werden. Übrigens ist kaum Gefahr vorhanden, diese Stimmung möchte durch einen Laut jugendlichen Übermutes zerrissen werden. Ein Blick genügt, zu bemerken, daß fast alle Mitglieder der hier versammelten Familie in einem Alter stehen, in welchem die Lebensäußerungen längst gesetzte Formen angenommen haben.
Und die Kinder? Der ein wenig spärliche Nachwuchs? Ist auch er für das leise Schauerliche dieses so ganz neuen und ungekannten Umstandes empfänglich?
Was die friedlich schlafende kleine Elisabeth, Hannos Cousine, betrifft, so ist es unmöglich, über ihren Gemütszustand zu urteilen. Hanno aber sitzt still auf seinem Schemel zu den Füßen seiner Mutter und blickt gerade wie sie zu einem Prisma des Kronleuchters empor …
Christian fehlt! Wo ist Christian? Erst jetzt im letzten Augenblick bemerkt man, daß er noch nicht anwesend ist. Die Bewegungen seiner Mutter, der Konsulin, die eigentümliche Manipulation, mit der sie vom Mundwinkel zur Frisur hinaufzustreichen pflegt, als brächte sie ein hinabgefallenes Haar an seine Stelle zurück, werden noch fieberhafter. Sie instruiert eilig die Hausdame, und die Jungfer begibt sich an den Chorknaben vorbei durch die Säulenhalle, zwischen den Hausarmen hin über den Korridor und pocht an Christian Buddenbrooks ...
... Tür.
Gleich darauf erscheint Christian. Er kommt mit seinen mageren, krummen Beinen, die seit dem Gelenkrheumatismus etwas lahmen, ganz gemächlich ins Landschaftszimmer, indem er sich mit der Hand die kahle Stirne reibt.
"Donnerwetter, Kinder", sagt er, "das hätte ich beinahe vergessen!"
"Du hättest es …" wiederholt seine Mutter und erstarrt …
"Ja, beinah vergessen, daß heut Weihnacht ist … Ich sitze und lese … in einem Buch, einem Reisebuch über Südamerika … Du lieber Gott, ich habe schon andere Weihnachten gehabt …" fügt er hinzu und fängt mit der Erzählung von einem Heiligen Abend anzufangen, den er zu London in einem Tingeltangel fünfter Ordnung verlebt.
Er schildert die äußerst freizügig bekleideten wunderhübschen Mädchen, die sich auf den Schoß der männlichen Gäste setzen und ihnen mit Champagner zuprosten. Völlig ungeniert lassen sie sich von den Herren berühren, scherzen und lachen. Die ausgelassene Feier dauert mit Gesang, Alkohol und anderen Ausschweifungen bis zum frühen Morgen.
Die Konsulin wirft ihm eine vernichtenden Blick zu, daß er es wagt, den Heiligen Abend mit einer derartig unpassenden schlüpfrigen Geschichte zu entweihen. Plötzlich beginnt jedoch die im Zimmer herrschende Kirchenstille auf Christian zu wirken, so daß er mit krausgezogener Nase und auf den Zehenspitzen zu seinem Platz geht.
"Tochter Zion, freue Dich!" singen die Chorknaben, und sie, die eben noch da draußen so hörbare Allotria getrieben, daß die Konsulin sich einen Augenblick an ...