1. Weihnachten bei Buddenbrooks


    Datum: 28.10.2018, Kategorien: CMNF Autor: baer66

    ... die Tür hatte stellen müssen, um ihnen Respekt einzuflößen, – sie singen nun ganz wunderschön. Diese hellen Stimmen, die sich, getragen von den tieferen Organen, rein, jubelnd und lobpreisend aufschwingen, ziehen aller Herzen mit sich empor, lassen das Lächeln der verbitterten Jungfern milder werden und machen, daß die alten Leute in sich hineinsehen und ihr Leben überdenken, während die, welche mitten im Leben stehen, ein Weilchen ihre Sorgen vergessen.
    
    Christian denkt bei den hellen Stimmen an die jungen Mädchen, die im Internat für das Weihnachtsoratorium proben. Immer wieder ist er im Vorübergehen am Fenster der Klosterkapelle stehengeblieben, um den kleinen Engeln zuzuhören. Richtig warm ums Herz ist ihm dabei geworden als Zeuge der Vermählung von so viel unschuldiger Schönheit mit derart kunstvoll gesetztem Wohlklang.
    
    Hanno läßt sein Knie los, das er bislang umschlungen gehalten hat. Er sieht ganz blaß aus, spielt mit den Fransen seines Schemels und scheuert seine Zunge an einem Zahn, mit halbgeöffnetem Munde und einem Gesichtsausdruck, als friere ihn. Dann und wann empfindet er das Bedürfnis, tief aufzuatmen, denn jetzt, da der Gesang, dieser glockenreine a-cappella-Gesang die Luft erfüllt, zieht sein Herz sich in einem fast schmerzhaften Glück zusammen. Weihnachten … Durch die Spalten der hohen, weißlackierten, noch fest geschlossenen Flügeltür dringt der Tannenduft und erweckt mit seiner süßen Würze die Vorstellung der Wunder dort drinnen im Saale, die man ...
    ... jedes Jahr aufs neue mit pochenden Pulsen als eine unfaßbare, unirdische Pracht erharrt … Was würde dort drinnen für ihn sein? Das, was er sich gewünscht hat, natürlich, denn das bekommt man ohne Frage, gesetzt, daß es einem nicht als eine Unmöglichkeit zuvor schon ausgeredet worden ist.
    
    Christian überlegt, ob er sich in dieser wunderbaren Nacht auch etwas wünschen soll. Vielleicht ein trautes Stelldichein am Mühlenwall? Es ist ja schließlich das Fest der Liebe, das heute gefeiert wird.
    
    Die Konsulin aber schreitet langsam zum Tisch und setzt sich inmitten ihrer Angehörigen auf das Sofa, das nun nicht mehr wie in alter Zeit unabhängig und abgesondert vom Tische da steht. Sie rückt die Lampe zurecht und zieht die große Bibel heran, deren altersbleiche Goldschnittfläche ungeheuerlich breit ist. Dann schiebt sie die Brille auf die Nase, öffnet die beiden ledernen Spangen, mit denen das kolossale Buch geschlossen ist, schlägt dort auf, wo das Zeichen liegt, daß das dicke, rauhe, gelbliche Papier mit dem übergroßen Druck zum Vorschein kommt, nimmt einen Schluck Zuckerwasser und beginnt, das Weihnachtskapitel zu lesen.
    
    Sie liest die altvertrauten Worte langsam und mit einfacher, zu Herzen gehender Betonung, mit einer Stimme, die sich klar, bewegt und heiter von der andächtigen Stille abhebt. "Und den Menschen ein Wohlgefallen!" sagt sie. Kaum aber schweigt sie, so erklingt in der Säulenhalle dreistimmig das "Stille Nacht, heilige Nacht", in das die Familie im Landschaftszimmer ...