1. Teil 02 - Simon


    Datum: 18.01.2019, Kategorien: Sci-Fi & Phantasie Autor: bythomasbirne

    02 - Simon
    
    Ich starre in mein Schnapsglas, das der Templer gerade mit Gin gefüllt hat und bemerke, dass die Welt hinter der öligen Flüssigkeit verkleinert und auf den Kopf gestellt erscheint. Die halbleere Flasche, die Kaffeetasse mit den Zahnstochern darin, der schmutzige Aschenbecher und das bärtige Gesicht des Glaubenskriegers ragen wie Stalaktiten von der Decke herab. Der mit Glühbirnen und Lichterketten behängte Konverter, in dem sie früher Stahl gekocht haben, steht dagegen wie ein grasgrün und syphilisrosa leuchtender Weihnachtsbaum auf einem weit unter mir liegenden Boden. Was passiert, wenn man zwei Schnapsgläser hintereinanderstellt? Rückt das die Welt wieder ins Lot oder zersetzt es sie vollends in bizarr verzerrte Farbkleckse?
    
    Der Templer hebt sein Glas und eilig führe auch ich das meine an die Lippen. Der Gin schmeckt gallig und ist lauwarm, doch ihn scheint es nicht zu stören und mich erst recht nicht. Ein Tropfen rinnt ihm über die wulstigen Lippen in den rostfarbenen Bart hinein. Mit dem Handrücken wischt er sich über das Kinn, aber der Gin hat bereits das T-Shirt mit dem Eisernen Kreuz, Zeichen seines Ordens, befleckt.
    
    „Nicht ablenken lassen, Glaubenskrieger", sage ich, während die Finger meiner rechten Hand mit dem leeren Glas spielen.
    
    Der Templer grinst mich an. „Ach ja? Wozu bist du denn dann hier? Bist du schwul, oder so?"
    
    Nein, bin ich vermutlich nicht. Zumindest habe nie das Bedürfnis verspürt, die Zunge eines Mannes an meiner ...
    ... Eichel zu spüren und fremde Schwänze haben mich bis jetzt auch nicht angezogen. Unschuldig im Sinne der Anklage, also.
    
    Die Blicke des Ordensritters wandern über meine linke Schulter zur Bühne, wo sich Elena vermutlich gerade auf dem Boden liegend den Slip über die hohen Absätze ihrer schwarzen Stiefel hinweg auszieht. Ich habe es so oft mitangesehen, dass ich jeden ihrer wiegenden Schritte, jeden vor Lust glühenden Blick ins Publikum, jeden zärtlich zögerlichen Griff an ihre sich stetig verringernde Bekleidung auswendig kenne. Natürlich versucht sie ihre Nummer zu variieren, zu beweisen, dass sie sozusagen echtes Fleisch ist, und nicht dieses komische Sojazeug, das man neuerdings überall angedreht bekommt, aber da Elena unglücklicherweise keine Spur von Menschlichkeit mehr besitzt, fällt sie am Ende doch immer in die gleichen Schritte, Blicke, Handgriffe zurück. Arme Elena. Nicht, dass es von Bedeutung wäre.
    
    Warum komme ich dann dennoch immer wieder ins Stahlwerk? Keine Ahnung. Ich bin keineswegs hier, um Elena auf die Brüste zu schauen, meistens sitze ich sogar als einziger im Raum mit dem Rücken zur Bühne, so wie heute. Ich will sehen, was sie mit den Menschen macht. Ich will dabei zuschauen, wie die Menge von ihrem Blut trinkt.
    
    Andächtige Ruhe erfasst das Publikum, sogar die in einer Endlosschleife abgespielte elektronische Musik scheint etwas weniger schrill und klirrend zu klingen. Elena hat sich anscheinend gerade auf die von ihren ungezählten Vorgängerinnen ...
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