1. Die Stellvertreterin


    Datum: 27.04.2019, Kategorien: Kunst, Autor: Anonym

    ... selbstverständlich gleich total nackt vor ihm stehen werde.
    
    Und ich weiß, dass er Recht damit hat.
    
    Ich fühle, dass ich davor keine Angst mehr habe.
    
    Ich will die Herausforderung annehmen.
    
    Aber ich will mich noch nicht so leicht geschlagen geben.
    
    Eigentlich hatte ich genau das in meinem Innersten erwartet.
    
    Aber eben ein klein wenig zartfühlender, tastender, höflicher.
    
    „Ich muss also unbedingt nackt sein, hier ganz alleine, vor einem mir fremden Mann? Das geht gar nicht. Jedenfalls nicht so schnell, so unvermittelt und so plötzlich.
    
    Nein.
    
    Und ich verstehe auch den Unterschied nicht, den es für dich ausmacht, ob du mich siehst, wie ich jetzt bin, oder wenn ich ganz nackt wäre.
    
    Du kannst doch auch so fast alles von mir sehen, außer meinen Brustwarzen und meinen Schamlippen.
    
    Was soll daran so schön und so wichtig sein, dass du es unbedingt sehen musst?“
    
    „Nein. Du verstehst da etwas völlig falsch. Genauso falsch, wie eigentlich fast jeder und jede, die nichts mit Kunst und Malerei zu tun haben.
    
    Es geht nicht darum, was ich da sehe.
    
    Es geht darum, was von dir über alle meine Sinne in meine Birne und von da in meine Hände übergeht. Es geht um dich als Ganzes und darum, wie du mit mir und der Welt deine Stimmung, wenn du so willst, deine Seele austauschst.
    
    Da kann nichts dazwischen sein, das diesen Austausch stört.
    
    Ich habe das alles, was du mir von dir nicht zeigen willst,
    
    schon hunderte Male
    
    gesehen. Wenn es auch jedes Mal ein ...
    ... wenig anders ist, darauf bin ich nicht neugierig. Wirklich nicht.
    
    Überhaupt, der Begriff „Nacktheit“, der hat hier nichts zu suchen. Sind vielleicht Hunde, Kühe, Katzen oder Vögel nackt, wenn sie kein Höschen oder Hemd anhaben?
    
    Nein, sind sie nicht. Du wirst jetzt vielleicht sagen: Ja, die haben ja auch ein Fell...“
    
    Jetzt reicht es mir aber!
    
    „Nein, das werde ich bestimmt nicht sagen! Hast du vielleicht noch mehr solche schönen Sachen, mit denen du mich vergleichen kannst, wie Bäume, Schluchten, Hunde, Rinder, Katzen, Vögel? Vielleicht noch kleine nackte Schweine?
    
    Am besten Warzenschweine!“
    
    Damit habe ich auch schon den BH abgeschnallt und in die Zimmerecke geschleudert.
    
    „Oder vielleicht noch Ofenrohre, Bratröhren und Kneifzangen, oder was?“
    
    Damit landet mein Schlüpfer per Fußschleuder in hohem Bogen im Kaminfeuer
    
    und er beginnt dort sofort zusammenzuschrumpeln und fürchterlich zu stinken.
    
    Das war nicht beabsichtigt. Ich schlage mir die Arme um die Brust und erstarre vor Schreck. Der ist futsch. Den kann ich nicht wieder überstreifen.
    
    Dieser Kerl lacht darüber auch noch unverschämt und singt:
    
    „Hurra,
    
    jetzt hat sie’s, hurra, jetzt hat sie’s!“
    
    Ich nehme resigniert meine Arme aus der Brustumschlingung
    
    und breite sie weit aus.
    
    Ich sehe ihn an und lasse es meinerseits geschehen, dass er mich in aller Ruhe von oben bis unten mustert und auch, dass seine Augen hier und da an einigen Stellen meines nackten Körpers verharren.
    
    Ich muss nur ...
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