1. Rapunzel 03


    Datum: 11.06.2018, Kategorien: Romane und Kurzromane, Autor: byJoanWilbury

    ... Ehepaar Sommer war dort bis jetzt noch nicht eingetroffen.
    
    Ich fing an zu weinen. Mick verwuschelte mir tröstend die Haare. „Keine Angst. Ich sag dir, sie haben beim Umsteigen den Anschlusszug verpasst und mussten eine Stunde auf den nächsten warten. Die sind noch unterwegs."
    
    „Ich will aber jetzt mit ihnen sprechen", schluchzte ich. Typisch kindlicher Egoismus, ich wollte die Stimme meiner Mutter hören und um nichts in der Welt auf später vertröstet werden.
    
    „Weißt du was?", sagte Mick entschlossen. „Ich ruf jetzt bei der Bahn an und frag nach, ob einer der Züge Verspätung hatte. Dann wissen wir zumindest, wann wir ungefähr damit rechnen können, dass deine werten Eltern sich melden -- und wann du endlich ins Bett kannst."
    
    Er wollte mich aufmuntern, aber ich war zu nervös dafür. Eine richtige verdammte Angst hatte sich in mir breit gemacht.
    
    Ich weiß nicht mehr genau, was er den Beamten am Telefon gefragt hat. Sein Gesicht wurde nur plötzlich sehr still. Ohne sich zu verabschieden, legte er den Hörer auf.
    
    Er saß da, hielt sich die Hand vor den Mund und starrte einfach ins Leere. Ich wusste, dass meine Ahnung sich bestätigt hatte, noch bevor er wieder halbwegs seine Fassung zurückgewann und mit rauer Stimme „Tanita..." sagte.
    
    „Nein!", schrie ich wie von Sinnen, rannte aus dem Raum und warf mich in meinem Zimmer aufs Bett. Die Erinnerung an den Rest des Abends ist verschwommen, ich habe wohl die meiste Zeit geweint. Mick hat mir erst später genau erzählt, ...
    ... was passiert ist, in diesen Stunden saß er nur bei mir und versuchte, mich ohne viele Worte zu trösten.
    
    Der Zug, mit dem meine Eltern von zu Hause abgefahren waren, war entgleist, kurz bevor sie hätten umsteigen sollen. Es war ein furchtbares Unglück, keine Überlebenden. Wahrscheinlich sind menschliches und technisches Versagen zusammengekommen, man hat nie die Hauptursache herausgefunden.
    
    Meine bis dahin relativ heile Kinderwelt brach von einem Moment auf den nächsten zusammen. Der einzige, der mich auffing und versuchte, mir trotz seiner eigenen Verzweiflung Lebensfreude wiederzugeben, war Mick. Mein Vater hatte ihn einmal gebeten, sich um mich zu kümmern, falls ihm und meiner Mutter etwas passieren sollte -- als hätte er eine Art Vorahnung gehabt. Und Mick stellte sich der Verantwortung, als es darauf ankam. Ich meine, er war noch recht jung und eigentlich ein ziemlicher Kindskopf, aber er ließ mich nicht im Stich, kümmerte sich darum, das Sorgerecht für mich zu erhalten -- meine Großeltern mütterlicherseits (die einzigen, die ich noch hatte) kannte ich kaum, die Schwester meines Vaters interessierte sich wie gesagt nicht für mich -- und gab sich alle Mühe, damit es mir an nichts fehlte.
    
    Von dieser Zeit an gab es eigentlich keinen Tag, den wir nicht zusammen verbracht hätten. Mick ging natürlich weiterhin zur Arbeit, aber er ließ es sich nicht nehmen, mich morgens zur Schule zu bringen und nachmittags abzuholen. Nach dem Feierabend, am Wochenende und wenn er Urlaub ...
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