1. Rapunzel 03


    Datum: 11.06.2018, Kategorien: Romane und Kurzromane, Autor: byJoanWilbury

    ... hatte, nahm er sich unglaublich viel Zeit für mich. Bestimmt die Hälfte dessen, was ich weiß, hab ich von ihm gelernt.
    
    So vergingen die Jahre, in denen er für mich nach wie vor mein bester Kumpel war, auch wenn unsere Beziehung wesentlich inniger und vertrauter war als früher. Ich kann keinen genauen Zeitpunkt festmachen, an dem die Änderung eintrat. Es muss ein schleichender Prozess gewesen sein. Je älter ich wurde und mich dementsprechend dem „Frausein" näherte, desto öfter beschäftigten mich Gedanken, na ja, eher Gefühle, die ich anfangs halb beschämt, halb kopfschüttelnd als Blödsinn beiseite schob. Schon als kleines Mädchen war ich ein bisschen verknallt in Mick gewesen, aber natürlich in einem völlig unschuldigen Sinne. Bereits als Kind sucht man ja manchmal nach Vorbildern, die sich von den Eltern grundlegend unterscheiden. Mick passte da natürlich perfekt, ich konnte ihn hemmungslos bewundern, weil er keinem Trend hinterher lief, sondern sein eigenes Ding durchzog. Außerdem sah er gut aus -- so etwas entgeht einem Mädchen anscheinend nie, egal wie alt es ist.
    
    Jetzt aber waren meine Gefühle für ihn nicht mehr so harmlos. Wenn wir zum Spaß herumrangelten, wünschte ich mir, er würde mich noch auf andere Weise berühren, ich wollte ihn „richtig" küssen, nicht nur auf die Wange... Ich bekam Herzklopfen, wenn er mal im freien Oberkörper herumlief oder mich in die Arme nahm.
    
    Es entging ihm natürlich nicht, dass ich mich zunehmend versteifte, wenn er in meine Nähe ...
    ... kam, schob das aber zunächst fälschlicherweise darauf, dass ich kein kleines Kind mehr war, sondern eine junge Frau und nicht mehr viel Wert darauf legte, geknuddelt zu werden. Also ließ er mich mehr in Ruhe, was das genaue Gegenteil von dem war, was ich eigentlich wollte. Und anscheinend auch das Gegenteil von dem, was er wollte. Irgendwann fiel es mir nämlich auf, dass er mich gelegentlich auf merkwürdige Weise musterte. Und wenn ich zum Beispiel nur in ein Handtuch gewickelt aus der Dusche kam und wir einander zufällig im Flur begegneten, wirkte er plötzlich eigenartig verlegen, obwohl wir sonst immer in jeder Hinsicht völlig ungezwungen miteinander umgegangen waren.
    
    Wir schlichen eine halbe Ewigkeit auf diese Weise umeinander herum, statt offen auszusprechen, dass wir uns beide mehr wünschten als einfach „nur" eine Freundschaft. Mick sagte mir später, er habe befürchtet, mir Angst zu machen, wenn er zugegeben hätte, dass er in mir nicht mehr sein Patenkind sah, sondern mich als seine Partnerin wollte. Er konnte nicht wissen, dass das Einzige, wovor ich Angst hatte, eine Abfuhr von ihm war.
    
    Um es kurz zu machen: Eines Abends saßen wir vor dem Fernseher und gerieten wegen irgendeiner Kleinigkeit in Streit. Kein ernsthafter Streit, es war nur eine harmlose Kabbelei, aber wir fingen nach langer Zeit mal wieder im Spaß eine Rauferei an. Irgendwie kam es dazu, dass ich im Eifer des Gefechts auf ihm lag und...
    
    „Was wolltest du gerade machen?", fragte er mich heiser, mit ...
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