Der Pianist und das Mädchen
Datum: 13.03.2022,
Kategorien:
Romantisch
Autor: Dingo666
... Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Also blieb er stumm und tat nichts. Die Klänge im Schädel schwächten sich ab, wurden leiser, langsamer. Wie ein Soundtrack, der einer bevorstehenden Actionsequenz Platz macht.
"Was?", fragte der Typ auf der Bühne in einem drohenden Ton. Jean-Luc hätte gerne einen Schritt rückwärts gemacht, wäre am liebsten eilig davon gegangen. Doch er konnte sich nicht rühren. Er fühlte sich wie festgewurzelt.
"Wir haben nur... Musik gemacht!" In der Stimme des anderen schwang eine defensive Note mit. So als wolle er damit das nächtliche Eindringen und seine schauderhaften Künste erklären.
"Ich habe Geburtstag!", meinte das blonde Mädchen schnell und lächelte. Ihre Zähne blinkten in der halbdunklen Umgebung. Der neben ihr nickte eilig.
"Ah!", machte Jean-Luc und lächelte zum ersten Mal selbst. Vertrautes Gelände, endlich! Jetzt verstand er. Wenn seine Mutter Geburtstag hatte, überraschte er sie immer mit einem besonders schwierigen Stück, das er heimlich eingeübt hatte. Sie war dann so glücklich und so stolz. Manchmal standen Tränen in ihren Augen.
"Soll ich dir auch was spielen?", hörte er sich fragen. Er hatte noch nie für jemand außer seiner Mutter gespielt. Dabei zählten die Auftritte vor Publikum nicht, das war was anderes als ein persönlich gemeintes Lied. Aber dem Gedanken, diesem Mädchen vorspielen zu dürfen, haftete etwas Kindlich-Unschuldiges an. Und gleichzeitig ein Hauch von Sünde. Eine unwiderstehliche Mischung.
Die fünf ...
... starrten ihn an. Dann drehten sich die vier vor der Bühne wie auf Kommando um und sahen zu dem am Klavier auf. Dem schien die Aufmerksamkeit aus irgendeinem Grund gar nicht recht zu sein.
"Klar!", meinte der und warf die Hände über den Kopf, als sei das die normalste und langweilige Sache der Welt. Dennoch hatte Jean-Luc den Eindruck, dass er den Platz am Flügel ungern räumte.
Er kam in Bewegung und schritt steif durch die Stuhlreihen hindurch, dann vorne rechts und die drei Stufen zur Bühne hoch. Jemand kicherte, als er diesen Umweg nahm.
Der Typ machte den Hocker frei und wies mit übertrieben eleganter Geste auf die Sitzfläche. Jean-Luc lächelte unbehaglich und setzte sich. Vor ihm die Tasten, altvertraut, wie die Innenseiten seiner Zähne für die Zunge. Alles andere trat beiseite, verschmolz zum Hintergrund. Zum notwendigen Begleitumstand einer dreidimensionalen Welt, die für die ordentliche Ausbreitung von Schallwellen nun mal erforderlich ist.
Dort, wo sonst die Noten lagen, glänzte nur schwarzer Lack. Für einen Augenblick verfiel er in Panikstarre. Was sollte er spielen? Er hatte noch nie einfach so drauflos gespielt, irgendein Lied, aus dem Kopf.
Nicht weil er es nicht beherrschte -- viele Partituren waren so tief in seinem Gedächtnis verankert, dass er im Schlaf jede Note hätte benennen können. Sondern weil Dr. Moreaux, sein erster Musiklehrer, immer "freies Spiel" mit dieser besonderen, leicht abfälligen Betonung ausgesprochen hatte. Seine Mutter hatte ...