1. Der Pianist und das Mädchen


    Datum: 13.03.2022, Kategorien: Romantisch Autor: Dingo666

    ... das übernommen und konnte heute noch "freies Spiel" genauso aussprechen wie Dr. Moreaux früher.
    
    Er bemerkte, dass ihn alle erwartungsvoll ansahen. Vier Gesichter blickten zu ihm auf, fragend, neugierig. Das des hübschen Mädchens leuchtete förmlich, sie nickte ihm ermunternd zu und lächelte. Sie hatte eine tief ausgeschnittene Bluse an. Von seinem erhöhten Standort aus konnte er die helle Haut ihrer gut entwickelten Brüste und das Tal dazwischen einsehen. Sofort sah er anderswohin und schluckte.
    
    Instinktiv griff er in die Tasten und brachte einen Auftakt von Bach. Seine Hände, seine Finger arbeiteten selbständig, lieferten fehlerfrei Note auf Note, in exakt der richtigen Dynamik und der passenden Betonung. Alles war so, wie es immer war. Wie es sein musste.
    
    Und dennoch empfand er eine ungewohnte Unzufriedenheit mit seinem Spiel. Etwas fehlte.
    
    Mit einem gewagten Tonartwechsel schwang er über zu einer Sonate von Mozart. "Mozart passt immer", hatte Dr. Moreaux oft gesagt. Aber jetzt passten die vertrauten Akkorde nicht. Nicht ganz, nicht so nahtlos wie sonst. Perfekt perlten die Töne aus den Tasten, doch unter der makellosen Oberfläche blieb eine seltsame Leere zurück. Verwirrt fragte er sich, ob diese Leere sonst nicht anwesend war oder ob er sie nur nicht wahrnahm. Nicht einmal das unbeholfene Kinderlied seines Vorgängers vor ein paar Minuten hatte dieses seelenlose Loch aufgewiesen.
    
    Vielleicht...
    
    Seine linke Hand trieb den Basslauf weiter, variierte ...
    ... ihn unmerklich. Die rechten Finger spielte die ersten Töne von "Happy Birthday".
    
    Ah!
    
    Jean-Luc lächelte erfreut. Das war leicht! Mit wachsender Begeisterung erschuf er aus dem Nichts eine beschwingte Mozartversion des Geburtstagsliedes. Schnelle, ornamentale Läufe rankten sich um die simple Melodie wie Lilienranken um ein Wappen. Wie von selbst fand sich eine zweite, eine dritte Stimme zum Grundmotiv.
    
    Ein Ausruf, ein kurzes Klatschen lenkte ihn für einen Moment ab. Die vier Gesichter strahlten, da sie das Lied erkannt hatten, und nickten im Takt. Das blonde Mädchen wippte ein wenig. Sie war groß und schlank und erinnerte ihn an einen Gepard.
    
    Es gefiel ihnen! Aus unerfindlichen Gründen war ihm das wichtig. Viel wichtiger als alles, was seine Professoren vom Konservatorium sagen mochten. Oder die Kritiker in den Zeitungen, oder seine Kollegen. "Freies Spiel" war wohl doch nicht so schlimm.
    
    Mit wachsendem Selbstvertrauen ging er zu Tschaikowski über, zu Debussy, zu Händel. Jeder der alten Meister gab ihm seine eigene, spezielle Variante von "Happy Birthday", schenkte Töne und Taktmaße, Läufe und Kontrapunkte.
    
    Als Jean-Luc beherzt weiterspielte, da bemerkte er nicht einmal, dass sein inneres Konzert leise geworden war, fast verstummt.
    
    ***
    
    Aurie sah mit offenem Mund zu dem dünnen jungen Mann hoch. Er hatte so komisch ausgesehen, als er sich so ernst und gesammelt an das Klavier setzte. Für einen Moment hatte sie eine hämische Bemerkung von Claude beinahe ...
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