Der Pianist und das Mädchen
Datum: 13.03.2022,
Kategorien:
Romantisch
Autor: Dingo666
... herbeigesehnt. Sie wollte lachen, wollte sich ablenken vom eigenen Schmerz, der nach wie vor unter ihrem Brustbein wühlte.
Dann fing er an zu spielen. Die ersten Töne waren noch zurückhaltend, doch gleich darauf orgelte der Flügel los wie ein hochdrehender Sportwagen. Die ungewohnte Flut von klanglichen Eindrücken überforderte sie fast. Zu weit war diese Art von Musik von dem entfernt, was sie sonst hörte oder kannte. Aber als zwischen dem melodischen Rauschen die vertraute Folge von "Happy Birthday" aufschien, da war es wie ein Rätsel, das sich unvermittelt von alleine löste. Sie lachte auf, klatschte in die Hände, und verfolgte atemlos, wie sich das Lied weiterentwickelte, drehte, tanzte, und sich dabei in raffinierten Endlosschleifen um sich selbst zu schlingen schien.
Claude stand hinter dem Pianisten, die Fäuste in die Hüften gestemmt und das Gesicht zu einer analytisch-kritischen Maske verzogen. So als müsste er noch abwägen, ob er dem Treiben zustimmen sollte. Ob er dem Können des anderen Respekt zollen würde. Doch gleichzeitig war seine Geste schon vertrocknet, verdorrt, zur Bedeutungslosigkeit zerfallen. Er war raus. Er hatte in diesem neuen, musikalischen Universum keinen Platz, er gehörte nicht zu dieser allumfassenden Schöpfung. Und er wusste es, das zeigten seine herabhängenden Schultern deutlich.
Auf einmal hatte Aurie den Eindruck, Claude zum ersten Mal so zu sehen wie er tatsächlich war. Ein sehniger junger Mann, der seine Hilflosigkeit mit Getue ...
... übertünchte und damit ein Reich regierte, das nur in seiner Einbildung existierte. Der andere, noch schwächere Geister brauchte, um seine haltlosen Fantasien zu stützen. Dem im Grunde nichts und niemand etwas bedeutete, außer seinem eigenen falschen Stolz.
In ihrem Kopf toste der nicht endende Strom der Musik wie ein Gebirgsbach durch eine Schlucht. Die klingende Woge spülte alles hinweg, was nicht felsenfest verankert war. Sie verstand nichts mehr. Weder ihre Idee, in jemand wie Claude verliebt zu sein, noch was sie mit der Gang verband. Oder was sie überhaupt wollte. Was sie suchte. Auf dieser weiten Welt musste es doch mehr für sie geben als nur Herumhängen, Drogen ausprobieren, und Gemüsekisten schleppen?
Der Pianist hieb wie besessen in die Tasten und trat gleichzeitig unten auf den Pedalen herum. Der Flügel donnerte und hallte und füllte den Palais so dicht mit ineinander verwobenen Klängen, dass sie kaum Luft zum Atmen bekam. Aurie spürte ein bekanntes Brennen in den Augenwinkeln und blinzelte heftig. Auch das verstand sie nicht -- sie hatte noch nie wegen Musik weinen müssen.
Mit letzten, klagend langgezogenen Akkorden kam er zum Schluss. Die Töne verhallten einzeln in dem Saal. Sie blieben wie mit Widerhaken im Gehirn haften, lange nachdem wieder die tiefe, abendliche Stille herrschte.
Niemand bewegte sich, für ein paar Sekunden.
Endlich räusperte sich Claude, was sich fürchterlich falsch anhörte, und hieb dem Unbekannten auf die Schulter.
"Nicht ...